Das schönste an Schweden ist, dass es immer nur nachts regnet. Keine Ahnung warum, aber da ich am Tage fast immer feinstes Sommerwetter habe, ist es mir ziemlich egal. Ich weiß jetzt, dass meine Reise bald zu Ende sein wird. Bis Hudiksvall werde ich noch radeln. Zwei Wochen habe ich Zeit, dorthin zu gelangen, dann werde ich nach fast 3000 Kilometern mit dem Rad endlich meine Freundin wiedersehen. Von da an werden wir zu zweit weiter fahren - nicht mit dem Rad, sondern mit dem Auto und ein paar Tage gemeinsam Urlaub machen. Seitdem ich weiß, dass sie mich in Hudiksvall treffen wird, bin ich schneller denn je unterwegs. Ich gebe Gas, als könnte ich mit den Umdrehungen der Pedale nicht nur das Rad, sondern auch die Zeit beschleunigen. Den Polarkreis habe ich bereits schon wieder überquert (diesmal von Norden nach Süden) - weit ist es nicht mehr bis nach Luleå, an der Ostküste Schwedens. Von der Westküste Norwegens zur Ostküste Schwedens Piilijärvi, Gällivare, Jokkmokk - diese eigenartigen Namen gehören den Städten, die auf meinem Weg über die Straßen Lapplands bis zum Bottnischen Meerbusen auftauchen. Doch es sind nicht nur die fremd klingenden Ortsbezeichnungen die Schweden so ganz anders erscheinen lassen als Norwegen. Auf meinem Hinweg entlang der norwegischen Küste wechselte das Landschaftsbild alle paar Kilometer. Man wusste nie, was einem hinter der nächsten Kurve oder dem nächsten Hügel erwartete. In Schweden merke ich jedoch recht schnell woran ich bin. Hier und da ein See oder ein Feld - ansonsten fahr ich durch einen schier endlosen Korridor, an dessen Seiten Baum neben Baum neben Baum stehen. Je mehr Kilometer ich zurücklege, desto mehr wünsche ich mir, möglichst schnell wieder an die Küste zu gelangen - das Auge fährt schließlich mit. Die ruhige, manchmal eintönige Natur Lapplands und ihre einsamen Straßen sollte ich jedoch schon bald vermissen.
Hunderte von Kilometern habe ich bereits auf dem rechten Seitenstreifen zurückgelegt. Nur hin und wieder überholte mich hier ein Auto. Immer wieder wurde ich dabei freundlich angehupt - mal als Überholsignal, mal einfach zur Begrüßung. Mir fällt auf, dass die Menschen im hohen Norden einen auffälligen Faible für dicke Ami-Schlitten haben. Das hatte ich bereits in Norwegen bemerkt. Es scheint eine Art Gesetzmäßigkeit zu sein: Je ländlicher die Gegend, desto dicker die Autos. Es beginnt ungefähr 10 Kilometer vor Luleå, als mir langsam aber sicher Zweifel kommen, dass mir die Autos, die mich in zunehmender Zahl überholen, weiterhin freundlich gesinnt sind. Die Hupsignale haben in letzter Zeit bedenklich zugenommen, genauso wie die Breite der Straße und der gesamte Verkehr. Schließlich wird der Seitenstreifen, auf dem es sich bisher ganz komfortabel fahren ließ, immer schmaler, bis mir nur noch die Fahrbahn selber bleibt. An der rechten Seite erscheint nun eine Leitplanke und an der linken finden sich immer weniger Ami-Schlitten, dafür aber immer mehr LKW's. Ich merke, wie ich mich verkrampfe. Erinnerungen an meinen ersten Tag in Norwegen kommen hoch, als ich naiver Weise gedacht habe, so schlimm wird die Durchfahrt eines Tunnels, auf dem ein "Fahrradfahrer-verboten-Schild" stand, schon nicht sein. Ich bin heilfroh als ich Luleå - eine lebendige, studentisch geprägte Stadt - erreiche. Als erstes setze ich mich an das Ufer der Ostsee und versuche mich wieder zu entspannen. Es ist ein schönes Gefühl zu wissen, dass man es aus eigener Kraft geschafft hat, die skandinavische Halbinsel durchquert zu haben, und vom Nordatlantik bis zur Ostsee geradelt zu sein. Und nach einiger Zeit fühle ich mich wieder frisch genug, um weiter zu fahren.
Verirrt in der schwedischen Pampa
"Die Straßen vor und hinter Luleå sind ungeeignet und nicht ungefährlich, aber auch nicht verboten für Radfahrer", erfahre ich in der Touristeninformation. Da mir meine Straßenkarte von Schweden, die zugegeben recht grob angelegt ist, keine Alternativen aufzeigt, setze ich meinen Weg vorerst auf der E 4 fort. Und tatsächlich nimmt der Verkehr südlich von Luleå wieder ab, so dass ich ohne größere Probleme nach Skellefteå komme.
Je weiter ich Richtung Süden fahre, desto unangenehmer wird der Verkehr, vor allem dann, wenn es wieder auf größere Städte zugeht. Ich nehme daher den Tipp einer kleinen Fahrradreisegruppe an, die mir empfiehlt, Umwege zu benutzen, um die schwierigsten Stellen auf der E 4 zu umfahren. Leider besitze ich die tolle Fahrradkarte nicht, auf der mir einer der Reisenden den Weg zeigt und schaffe es daher prompt, mich in der schwedischen Pampa zu verfahren. Irgendwann finde ich mich auf einem schmalen Waldweg wieder, dessen Untergrund nach den nächtlichen Schauern zu einer nougatartigen Weichmasse geworden ist. Es ist schwierig, hier mit dem ganzen Gepäck auf dem Sattel fahrradzufahren. Ein Bauer, den ich unterwegs treffe, weist mir zum Glück den richtigen Weg. Endlich kann ich auch mal von meinen Schwedisch-Kenntnissen profitieren, denn ich musste feststellen, dass mit Englisch bei diesem Herrn nicht viel zu erreichen ist. Nach diesem zwar landschaftlich schönen, aber überaus anstrengenden Umweg, beschließe ich - komme was wolle - der Hauptstraße weiter zu folgen. Ich habe keine Lust wieder Geld für eine Karte auszugeben, die ich sowieso nur noch wenige Tage benutzen werde. Außerdem ist die E 4 über weite Teile nicht schlimmer als eine normale deutsche Landstraße und schließlich wurde mir ja gesagt, es sei nicht verboten, auf ihr zu radeln. Jedenfalls galt das für den Abschnitt, der mittlerweile hinter mir liegt. Ich befinde mich wenige Kilometer vor Sundsvall, als ich hinter mir eine Stimme aus einem Lautsprecher wahrnehme. Zu meiner großen Überraschung steht plötzlich ein Polizeiwagen hinter mir, aus dem eine einzelne Beamtin aussteigt, die mich freundlich begrüßt. "Fahrradfahren auf dieser Straße ist verboten", erklärt sie mir. Deshalb müsse ich an der nächsten Ausfahrt auf jeden Fall abfahren. Ich sage ihr, dass ich bereits seit Luleå auf der E 4 fahre und kein Verbots- oder Hinweisschild bemerkt habe (naja, hier und da, gab es schon Schilder mit durchgestrichenen Fahrradsymbolen - aber nur ganz kleine). "Ob ich denn nicht bemerkt habe, wie gefährlich die Straße ist?", fragt die Polizistin. In diesem Moment rast ein LKW dicht an uns vorbei, so das meine Antwort durch den Lärm im Ansatz erstickt wird. Wir müssen beide lachen. "Ich will nur noch bis Sundsvall und habe im Übrigen heute schon über hundert Kilometer hinter mir, jetzt abfahren und ohne Karte durch die Orte irren, wäre wirklich hart." Sie erlaubt es mir. Ich solle aber gefälligst vorsichtig fahren und hinter Sundsvall die Umgehungsstraßen benutzen. Selten habe ich einen so netten Polizisten bzw. Polizistin erlebt.
Am Ende meiner Weisheit
In Skellefteå übernachte ich auf dem Campingplatz Byske Havsbad, mit eigenem Strand - so kann ich, jetzt wo ich an der Ostsee bin, auch endlich mal ins Wasser springen. Als ich beginne meine Taschen auszupacken und mein Lager aufzuschlagen, spricht mich ein anderer Gast an, das heißt, er versucht es. Da er Norweger und der englischen Sprache nicht wirklich mächtig ist, gibt es keine Möglichkeit, sich zu verständigen. Ich merke das recht schnell, er leider nicht. Der Mann redet einfach weiter mit mir auf Norwegisch. Dass ich auf seine Fragen nicht antworte, sondern nur mit den Schultern zucke und den Kopf schüttele, scheint ihn überhaupt nicht zu entmutigen. Schließlich hilft er mir auch noch beim Aufbauen des Zeltes. Zuerst denke ich: "der hat sie nicht mehr alle", dann stelle ich fest, dass er wahrscheinlich einfach nett ist. Erst als seine Frau hinzukommt, erfahre ich mehr über dieses Pärchen, das eigentlich auf den Lofoten zuhause ist, doch bereits seit 21 Jahren auf diesem Campingplatz ihren Sommerurlaub verbringt. Die Frau sagt, ihr Mann wundere sich, wieso so ein junger Kerl wie ich, so ganz alleine unterwegs ist. "Na, so was", denke ich. Immer wieder die gleiche Frage. Ich denke an die Menschen, die mir in den letzten Wochen und Monaten begegnet sind, an Mike aus Polen, Horst aus Dresden, den Danish-Dynamite-Radler. Sie sind vielleicht auf der Suche nach irgendetwas, vielleicht nach sich selbst, oder auf der Flucht oder einfach auf dem Weg. Ich überlege, ob ich meine Standardantwort auf die Frage des Mannes raushaue, entscheide mich dann aber, mit einer Gegenfrage zurückzuschießen."Sie wohnen doch auf den Lofoten - warum fahren Sie denn jedes Jahr, immer wieder in das gleiche Land, auf den gleichen Campingplatz, an einen Ort, der nicht annähernd so schön ist, wie ihr Zuhause?". Sie blickt mich verständnislos an und sagt dann mit fester Stimme: "Wir machen hier Urlaub!" Das sehe ich ein. Was soll man dazu sagen? Manchmal macht es wohl einfach keinen Sinn, nach einem tieferen Sinn zu suchen.
Nur noch ein paar Tage, bis Hudiksvall
Zwischen Skellefteå und Umeå verlasse ich wieder die Hauptstrasse, fahre einige Kilometer durch eng bewaldete Straßen und schlage noch einmal mein Lager an einem einsamen Platz in der schwedischen Natur auf. Im Reservat Bjuröklubb finde ich eine perfekte Stelle, unterhalb eines alten Leuchtturms, direkt an der Ostssee. Vor einigen Wochen habe ich auf den Lofoten von einem ganz ähnlichen Platz aus die Mitternachtssonne erlebt. Es war vielleicht das schönste Erlebnis meines kleinen Abenteuers und es markierte gleichsam den Wendepunkt der Reise. Nachdem ich mir wieder einmal ein Nudelfertiggericht auf dem Gaskocher zubereitet hatte, bleibe ich noch lange vor meinem Zelt sitzen. Die Sonne sieht jetzt genauso aus, wie damals. Doch dieses Mal geht sie langsam aber sicher unter, bis sie schließlich im Meer versinkt. Dann wird es stockfinstere Nacht.









