Sonntag, 15. September 2013

Ende des Abenteuers


Das schönste an Schweden ist, dass es immer nur nachts regnet. Keine Ahnung warum, aber da ich am Tage fast immer feinstes Sommerwetter habe, ist es mir ziemlich egal. Ich weiß jetzt, dass meine Reise bald zu Ende sein wird. Bis Hudiksvall werde ich noch radeln. Zwei Wochen habe ich Zeit, dorthin zu gelangen, dann werde ich nach fast 3000 Kilometern mit dem Rad endlich meine Freundin wiedersehen. Von da an werden wir zu zweit weiter fahren - nicht mit dem Rad, sondern mit dem Auto und ein paar Tage gemeinsam Urlaub machen. Seitdem ich weiß, dass sie mich in Hudiksvall treffen wird, bin ich schneller denn je unterwegs. Ich gebe Gas, als könnte ich mit den Umdrehungen der Pedale nicht nur das Rad, sondern auch die Zeit beschleunigen. Den Polarkreis habe ich bereits schon wieder überquert (diesmal von Norden nach Süden) - weit ist es nicht mehr bis nach Luleå, an der Ostküste Schwedens. Von der Westküste Norwegens zur Ostküste Schwedens Piilijärvi, Gällivare, Jokkmokk - diese eigenartigen Namen gehören den Städten, die auf meinem Weg über die Straßen Lapplands bis zum Bottnischen Meerbusen auftauchen. Doch es sind nicht nur die fremd klingenden Ortsbezeichnungen die Schweden so ganz anders erscheinen lassen als Norwegen. Auf meinem Hinweg entlang der norwegischen Küste wechselte das Landschaftsbild alle paar Kilometer. Man wusste nie, was einem hinter der nächsten Kurve oder dem nächsten Hügel erwartete. In Schweden merke ich jedoch recht schnell woran ich bin. Hier und da ein See oder ein Feld - ansonsten fahr ich durch einen schier endlosen Korridor, an dessen Seiten Baum neben Baum neben Baum stehen. Je mehr Kilometer ich zurücklege, desto mehr wünsche ich mir, möglichst schnell wieder an die Küste zu gelangen - das Auge fährt schließlich mit. Die ruhige, manchmal eintönige Natur Lapplands und ihre einsamen Straßen sollte ich jedoch schon bald vermissen. 

Hunderte von Kilometern habe ich bereits auf dem rechten Seitenstreifen zurückgelegt. Nur hin und wieder überholte mich hier ein Auto. Immer wieder wurde ich dabei freundlich angehupt - mal als Überholsignal, mal einfach zur Begrüßung. Mir fällt auf, dass die Menschen im hohen Norden einen auffälligen Faible für dicke Ami-Schlitten haben. Das hatte ich bereits in Norwegen bemerkt. Es scheint eine Art Gesetzmäßigkeit zu sein: Je ländlicher die Gegend, desto dicker die Autos. Es beginnt ungefähr 10 Kilometer vor Luleå, als mir langsam aber sicher Zweifel kommen, dass mir die Autos, die mich in zunehmender Zahl überholen, weiterhin freundlich gesinnt sind. Die Hupsignale haben in letzter Zeit bedenklich zugenommen, genauso wie die Breite der Straße und der gesamte Verkehr. Schließlich wird der Seitenstreifen, auf dem es sich bisher ganz komfortabel fahren ließ, immer schmaler, bis mir nur noch die Fahrbahn selber bleibt. An der rechten Seite erscheint nun eine Leitplanke und an der linken finden sich immer weniger Ami-Schlitten, dafür aber immer mehr LKW's. Ich merke, wie ich mich verkrampfe. Erinnerungen an meinen ersten Tag in Norwegen kommen hoch, als ich naiver Weise gedacht habe, so schlimm wird die Durchfahrt eines Tunnels, auf dem ein "Fahrradfahrer-verboten-Schild" stand, schon nicht sein. Ich bin heilfroh als ich Luleå - eine lebendige, studentisch geprägte Stadt - erreiche. Als erstes setze ich mich an das Ufer der Ostsee und versuche mich wieder zu entspannen. Es ist ein schönes Gefühl zu wissen, dass man es aus eigener Kraft geschafft hat, die skandinavische Halbinsel durchquert zu haben, und vom Nordatlantik bis zur Ostsee geradelt zu sein. Und nach einiger Zeit fühle ich mich wieder frisch genug, um weiter zu fahren. 




Verirrt in der schwedischen Pampa 

"Die Straßen vor und hinter Luleå sind ungeeignet und nicht ungefährlich, aber auch nicht verboten für Radfahrer", erfahre ich in der Touristeninformation. Da mir meine Straßenkarte von Schweden, die zugegeben recht grob angelegt ist, keine Alternativen aufzeigt, setze ich meinen Weg vorerst auf der E 4 fort. Und tatsächlich nimmt der Verkehr südlich von Luleå wieder ab, so dass ich ohne größere Probleme nach Skellefteå komme. 

Je weiter ich Richtung Süden fahre, desto unangenehmer wird der Verkehr, vor allem dann, wenn es wieder auf größere Städte zugeht. Ich nehme daher den Tipp einer kleinen Fahrradreisegruppe an, die mir empfiehlt, Umwege zu benutzen, um die schwierigsten Stellen auf der E 4 zu umfahren. Leider besitze ich die tolle Fahrradkarte nicht, auf der mir einer der Reisenden den Weg zeigt und schaffe es daher prompt, mich in der schwedischen Pampa zu verfahren. Irgendwann finde ich mich auf einem schmalen Waldweg wieder, dessen Untergrund nach den nächtlichen Schauern zu einer nougatartigen Weichmasse geworden ist. Es ist schwierig, hier mit dem ganzen Gepäck auf dem Sattel fahrradzufahren. Ein Bauer, den ich unterwegs treffe, weist mir zum Glück den richtigen Weg. Endlich kann ich auch mal von meinen Schwedisch-Kenntnissen profitieren, denn ich musste feststellen, dass mit Englisch bei diesem Herrn nicht viel zu erreichen ist. Nach diesem zwar landschaftlich schönen, aber überaus anstrengenden Umweg, beschließe ich - komme was wolle - der Hauptstraße weiter zu folgen. Ich habe keine Lust wieder Geld für eine Karte auszugeben, die ich sowieso nur noch wenige Tage benutzen werde. Außerdem ist die E 4 über weite Teile nicht schlimmer als eine normale deutsche Landstraße und schließlich wurde mir ja gesagt, es sei nicht verboten, auf ihr zu radeln. Jedenfalls galt das für den Abschnitt, der mittlerweile hinter mir liegt. Ich befinde mich wenige Kilometer vor Sundsvall, als ich hinter mir eine Stimme aus einem Lautsprecher wahrnehme. Zu meiner großen Überraschung steht plötzlich ein Polizeiwagen hinter mir, aus dem eine einzelne Beamtin aussteigt, die mich freundlich begrüßt. "Fahrradfahren auf dieser Straße ist verboten", erklärt sie mir. Deshalb müsse ich an der nächsten Ausfahrt auf jeden Fall abfahren. Ich sage ihr, dass ich bereits seit Luleå auf der E 4 fahre und kein Verbots- oder Hinweisschild bemerkt habe (naja, hier und da, gab es schon Schilder mit durchgestrichenen Fahrradsymbolen - aber nur ganz kleine). "Ob ich denn nicht bemerkt habe, wie gefährlich die Straße ist?", fragt die Polizistin. In diesem Moment rast ein LKW dicht an uns vorbei, so das meine Antwort durch den Lärm im Ansatz erstickt wird. Wir müssen beide lachen. "Ich will nur noch bis Sundsvall und habe im Übrigen heute schon über hundert Kilometer hinter mir, jetzt abfahren und ohne Karte durch die Orte irren, wäre wirklich hart." Sie erlaubt es mir. Ich solle aber gefälligst vorsichtig fahren und hinter Sundsvall die Umgehungsstraßen benutzen. Selten habe ich einen so netten Polizisten bzw. Polizistin erlebt. 

Am Ende meiner Weisheit 

In Skellefteå übernachte ich auf dem Campingplatz Byske Havsbad, mit eigenem Strand - so kann ich, jetzt wo ich an der Ostsee bin, auch endlich mal ins Wasser springen. Als ich beginne meine Taschen auszupacken und mein Lager aufzuschlagen, spricht mich ein anderer Gast an, das heißt, er versucht es. Da er Norweger und der englischen Sprache nicht wirklich mächtig ist, gibt es keine Möglichkeit, sich zu verständigen. Ich merke das recht schnell, er leider nicht. Der Mann redet einfach weiter mit mir auf Norwegisch. Dass ich auf seine Fragen nicht antworte, sondern nur mit den Schultern zucke und den Kopf schüttele, scheint ihn überhaupt nicht zu entmutigen. Schließlich hilft er mir auch noch beim Aufbauen des Zeltes. Zuerst denke ich: "der hat sie nicht mehr alle", dann stelle ich fest, dass er wahrscheinlich einfach nett ist. Erst als seine Frau hinzukommt, erfahre ich mehr über dieses Pärchen, das eigentlich auf den Lofoten zuhause ist, doch bereits seit 21 Jahren auf diesem Campingplatz ihren Sommerurlaub verbringt. Die Frau sagt, ihr Mann wundere sich, wieso so ein junger Kerl wie ich, so ganz alleine unterwegs ist. "Na, so was", denke ich. Immer wieder die gleiche Frage. Ich denke an die Menschen, die mir in den letzten Wochen und Monaten begegnet sind, an Mike aus Polen, Horst aus Dresden, den Danish-Dynamite-Radler. Sie sind vielleicht auf der Suche nach irgendetwas, vielleicht nach sich selbst, oder auf der Flucht oder einfach auf dem Weg. Ich überlege, ob ich meine Standardantwort auf die Frage des Mannes raushaue, entscheide mich dann aber, mit einer Gegenfrage zurückzuschießen."Sie wohnen doch auf den Lofoten - warum fahren Sie denn jedes Jahr, immer wieder in das gleiche Land, auf den gleichen Campingplatz, an einen Ort, der nicht annähernd so schön ist, wie ihr Zuhause?". Sie blickt mich verständnislos an und sagt dann mit fester Stimme: "Wir machen hier Urlaub!" Das sehe ich ein. Was soll man dazu sagen? Manchmal macht es wohl einfach keinen Sinn, nach einem tieferen Sinn zu suchen.

Nur noch ein paar Tage, bis Hudiksvall 


Zwischen Skellefteå und Umeå verlasse ich wieder die Hauptstrasse, fahre einige Kilometer durch eng bewaldete Straßen und schlage noch einmal mein Lager an einem einsamen Platz in der schwedischen Natur auf. Im Reservat Bjuröklubb finde ich eine perfekte Stelle, unterhalb eines alten Leuchtturms, direkt an der Ostssee. Vor einigen Wochen habe ich auf den Lofoten von einem ganz ähnlichen Platz aus die Mitternachtssonne erlebt. Es war vielleicht das schönste Erlebnis meines kleinen Abenteuers und es markierte gleichsam den Wendepunkt der Reise. Nachdem ich mir wieder einmal ein Nudelfertiggericht auf dem Gaskocher zubereitet hatte, bleibe ich noch lange vor meinem Zelt sitzen. Die Sonne sieht jetzt genauso aus, wie damals. Doch dieses Mal geht sie langsam aber sicher unter, bis sie schließlich im Meer versinkt. Dann wird es stockfinstere Nacht.



Unter wilden Tieren



Seit ich mich entschieden habe, nicht bis zum Nordkap zu fahren, fühle ich mich irgendwie müde. Schon die kurzen Etappen setzen mir ganz schön zu. Es kommt mir vor als wäre ich der eigentlichen Herausforderung dieser Reise aus dem Weg gegangen. Vorerst werde ich nicht an der steilen Klippe stehen, die das nördliche Ende unseres Kontinents markiert, werde nicht in die nicht untergehende Sonne des Nordens und nicht auf die Barentssee blicken, um irgendwo dahinter den Nordpol zu erahnen. Schon in Narvik fing ich an, meine Entscheidung zu bereuen.

Der Weg ist das Ziel

Dann aber treffe ich den Schotten (leider habe ich den Namen nicht erfahren). Der Schotte, ein Radreisender wie ich, war mit seinem Kumpel erst vor etwa einer Woche am Nordkap gewesen. Als ich ihm berichte, dass ich mich in Tromsø zum Umkehren entschlossen habe, beglückwünscht er mich. Er selber habe sich schwer geärgert, als er sich eine Woche lang durch eisigen Regen und Wind bis zum Nordkap gequält hatte, nur um zu sehen, dass er nichts sah. Denn das sonnige Nordkap aus dem Prospekt gäbe es nur an ganz wenigen Tagen zu erleben. Sehr viel wahrscheinlicher sei es, dass man im völligen Nebel auf der Klippe stehe und dass man schon sehr viel Glück haben müsse, wenn man mehr als gerade mal das Meer zu seinen Füßen erkennen könne - Glück, das er nicht hatte. Innerlich ballte ich meine Fäuste und fluchte, denn ich wusste ja: "I am a lucky guy!" - Verdammt!

Ich hätte im strahlenden Sonnenschein auf diesem Felsen gestanden, hätte ich es nur versucht. Dann aber fügte er hinzu, dass man ihm am Nordkap auch noch einen horrenden Betrag für den Eintritt abverlangt habe - den selben Preis, den auch die plattärschigen Bustouristen bezahlen, die dort oben zu hunderten abgekippt werden, damit sie ihr Foto machen, im Besucherzentrum ein Stück Kuchen essen und die vielen weiteren Angebote des perfekt vermarkteten Nordkaps nutzen können. Aber ja, das ist es! Betrachten wir die Sache doch mal so: Nur ein Dummkopf würde sich freiwillig zum willenlosen Rädchen in der Ausbeutungsmaschinerie der hiesigen Tourismusindustrie machen lassen. Habe ich etwa tausende von Kilometern auf dem Rad zurückgelegt, nur um mir vorschreiben zu lassen, wie ich meinen ganz persönlichen Moment am Ende der Welt zu genießen habe? Sicherlich nicht! Im Gegenteil, es ist geradezu die Pflicht eines jeden mündigen Reisenden, sich nicht vor den dreckigen Karren dieser sogenannten Fortschrittlichkeit spannen zu lassen, sich nicht an dem Ausverkauf der ursprünglichen Natur- und Kulturschätze zu beteiligen, sondern sich diesem Wahnsinn zu entziehen. Und ich wette, der Kuchen ist nicht mal selbst gebacken. Nein dieses Nordkap möchte ich nicht besuchen. Es widert mich an. Der Schotte ahnt ja nicht, welche Zufriedenheit er mit seinen Worten bei mir auslöst - mein Universum war wieder im Gleichgewicht.

Auf den Spuren der Vergangenheit in Narvik

Dass ich nun Zeit habe, die Stadt Narvik zu besuchen, ist mehr als ein Trostpflaster für die ohnehin ganz bewusst und aus gutem Grund getroffene Nordkap-Absage. In diesem 20.000 Einwohner Städtchen, vor deren Toren im Jahr 1940 die See-Schlacht um Narvik ausgetragen wurde, wird die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und die deutsche Besatzungszeit besonders hoch gehalten. Ich verbringe daher einen ganzen Tag im überaus sehenswerten Kriegsmuseum der Stadt. Die Geschichte des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges hat auch in Norwegen (wie in allen Ländern Europas) einige dunkle Kapitel zu bieten. Mein eigener Großvater war als Funker der deutschen Marine auf Schiffen vor der Küste Norwegens eingesetzt, daher ist der Aufenthalt in Narvik durchaus etwas Persönliches. Wenn ich auch letztlich nicht weiß, wie mein Opa zu Norwegen war, so weiß ich aber sicher, dass Norwegen gut zu ihm war, denn er hat den Krieg dort überlebt - was sich letztlich auch recht positiv auf meine eigene Existenz ausgewirkt hat. Er hat außerhalb seines Heimatdorfes nicht viele Spuren auf dem Globus hinterlassen, daher ist es mir besonders wichtig, mehr über die Zeit meines Opas in Norwegen zu erfahren, im festen Glauben, dass sein Besuch hier oben im Norden bestenfalls einfach niemandem aufgefallen ist.


Abschied aus Norwegen

Statt Norwegen nochmal auf meinem Rückweg zu durchqueren, entscheide ich mich nach Schweden rüber zu machen. Meine erste Station dort lautet Kiruna. Mir ist nie ganz wohl hier in Lappland, und vor allem im norwegisch-schwedischen Grenzgebiet, wild zu campen, ist doch diese Region bevorzugter Lebensraum von
immerhin ein paar tausend Braunbären, die es noch in Schweden gibt. Als ich in Bodø zu Besuch bei Sigi war, bekam ich erstmals etwas mit von der realen Existenz dieser Tiere hier im Norden. Erst kürzlich, habe man in der Gegend einen aggressiven Bären angeschossen, erzählte mir Sigi. Und er streife immernoch in den Wäldern rund um Bodø umher. Ich weiß natürlich, dass von den freilebenden Bären hier in Skandinavien praktisch keine Gefahr für Menschen ausgeht und das Unfälle sehr selten sind, dennoch habe ich manchmal ein mulmiges Gefühl, das weitgehend resistent gegenüber guter Argumente ist. Aus diesem Grund frage ich auch so ziemlich jeden Menschen, dem ich in dieser einsamen Region begegne, ob er von irgendwelchen Bären in der Gegend wisse, oder ob er vielleicht sogar einen gesehen habe. Immer wieder werde ich, vor allem von den Einheimischen, beruhigt, dass es sehr schwer sei, diese scheuen Tiere anzutreffen und dass ich mir wirklich keine Sorgen machen müsse. Ein Supermarktangestellter meint es besonders gut mit mir und sagt, dass ich mir über Bären keine Gedanken machen brauche, im Gegensatz zu Elchen. Ich solle mich hüten, aus Versehen zwischen einer Elchkuh und ihrem Kalb zu geraten, sonst könne ich mein blaues Wunder erleben. Von da an musste ich gleich mit zwei Sorgen klarkommen: Bären und Elche. Allerdings sollte es mir in all der Zeit tatsächlich nicht gelingen, einen Bären zu entdecken und einen Elch sah ich auch nur ein einziges Mal.

Wie Mad Max in Schweden


Die wahren Raubtiere Lapplands sind sowieso sehr viel kleiner. Doch dafür gibt es sie milliardenfach: Mücken! Es ist der ewig wiederkehrende Refrain meiner Reise. An jedem Ort erwartet mich ein neues blutsaugendes Insekt. In Norwegen hatte ich bereits Kontakt mit außergewöhnlich großen, aber auch fruchtfliegen-kleinen Stechfliegen. Diese schwirrenden Vampire hier in Nordschweden entsprechen zwar, soweit ich das beurteilen kann, der mitteleuropäischen Norm, doch ihre Anzahl ist völlig irrsinnig. Als ich an einem Waldrand in der Nähe von Piilijärvi mein Lager aufschlage, gibt es keine Stelle an mir, an meinen Klamotten oder an meinen Taschen, auf die sich nicht ganze Heerscharen von Mücken stürzen würden. Selbst auf meinem Sattel und dem Lenker sitzen sie. Ab dieser Nacht habe ich mir angewöhnt, zwischen vier und fünf Uhr morgens aufzubrechen. Ich bilde mir ein, dass die morgendliche Frische, die Biester nicht ganz so agil sein lässt. Die frühe Tageszeit hat einen weiteren Vorteil: Es sind keinerlei Autos unterwegs. Die Straße gehört mir alleine. Es ist unglaublich still um diese Uhrzeit. Ich höre nichts, außer das surrende Geräusch meines rollenden Reifens auf dem Asphalt und das Rauschen des Gegenwindes. Das ertrag ich auf Dauer nicht. Ich gehe daher dazu über, mir Musik aus meinem MP3-Player auf die Ohren zu geben. Mit den krachenden Sechzehnteln von The Music oder The Stone Roses fühle ich mich auf diesen endlos langen, mit dem Lineal gezogenen Straßen wie der Held in meinem eigenen post-apokalyptischen Science-Fiction-Film, wie Mad Max nur ohne Auto. Die Landschaft hier oben ist wunderbar flach. Ohne große Mühen spule ich 100 bis 120 Kilometer pro Tag ab und näher mich so mit riesigen Schritten der Ostsee. Von den Mücken mal abgesehen, ist Schweden ein herrliches Radreise-Land.

Freitag, 6. September 2013

Norwegische Uhren ticken anders





Hatte ich mich in der ersten Woche über die vielen Fährüberfahrten noch gefreut, empfinde ich sie mittlerweile irgendwie als lästig. In den seltesten Fällen bin ich mal pünktlich an den Anlegestellen, so das ich ständig auf die Fähren warten muss. Andererseits ist es auch schön, zu beobachten, mit welcher Seelenruhe die Norweger mit dieser alltäglichen Entschleunigung umgehen. Je weiter ich mich in Richtung Norden bewege, desto entspannter scheinen die Bewohner zu werden. Einmal, in Nesna, warte ich über eine Stunde auf eine Fähre - ausnahmsweise nicht, weil ich zu spät bin, sondern weil das Schiff keine Crew zusammen bekommen hat. Was in meinem preußischen Ohren nach mangelnder Disziplin bei der Arbeit klingt, nehmen die anderen Passagiere mit bewundernswerter Gelassenheit hin. Man hält ein Schwätzchen oder vertritt sich die Beine, jedenfalls scheint es niemand zu stören, dass wir jetzt hier warten müssen, weil ein Teil der Besatzung zum Angeln gegangen ist oder in die Kneipe oder sonst wohin. Das Schiff kommt schließlich dann doch, weil irgendeiner vom Personal einen Schwager auftreiben konnte (wie mir erzählt wird), der uns nun die Tickets verkauft und Kaffee ausschenkt. Langsam aber sicher ticken die Uhren hier anders.

Überquerung des Polarkreises

Einzigartige und (fast) menschenleere norwegische Naturlandschaften Wieder einmal an Bord einer dieser Fähren (leider nicht auf dem Rad) überquere ich an einem sonnigen Dienstag Morgen den Polarkreis. Dankbarer Weise befindet sich am Ufer eine Skulptur, die diese gedachte geografische Linie markiert, andernfalls wäre es schwer gewesen, diesen Moment auf einem Foto festzuhalten. Dass ich mich in der Nähe des Polarkreises befinde, hatte ich aber auch ohne diesen Anhaltspunkt bereits am Vorabend bemerkt. Denn, wie ich schon von einer Bekannten in Deutschland vorgewarnt wurde, trifft man ziemlich genau ab dieser Grenze auf ganz besondere Stechfliegen. Sie sehen aus wie harmlose Fruchtfliegen, fügen einem aber unangenehm juckende, zum Teil sogar leicht blutende Bisse zu. Diese Quälgeister nerven mich bald so sehr, dass ich mich mit Wehmut an "die guten alten Zeiten" mit den dicken Pferdefliegen aus Rørvik erinnere.

Begegnungen mit anderen Radreisenden

Neben neuen Insekten lerne ich aber auch ständig neue Menschen kennen, die sich aus den unterschiedlichsten Gründen ebenfalls mit dem Rad auf den Weg durch Norwegen gemacht haben. Darunter zum Beispiel ein Paar aus Österreich, das es bereits von Wien aus bis zum Nordkap geschafft hatte und sich nun auf dem Rückweg befindet. Ein Jahr haben sie sich für diese Schinderei frei genommen. Ich würde tippen, dass sie Lehrer sind, habe aber nicht gefragt. Oder Mike, ein Student aus Katowice mit der Physis eines Windhundes. Er kann sich das teuere Norwegen eigentlich gar nicht leisten und ernährt sich nur von Nutella und Weißbrot. Mit Horst aus Dresden fahre ich eine ganze Strecke zusammen. Als er noch Taxi-Fahrer war, hatte er beschlossen, durch Norwegen zu radeln, sobald er die Rente durch hatte. Als es endlich soweit war, packte er die Taschen und machte sich am nächsten Tag auf den Weg. Ich bin ganz froh, dass ich die Etappe nach Ørnes teilweise mit Horst zusammen fahren kann, auch wenn ich an den Anstiegen immer wieder Probleme habe mit dem Rentner Schritt zu halten. Es tut gut die Schönheit der Landschaft mal mit jemandem teilen zu können, und die Strecke zwischen Kilboghamn und Ørnes mit den dicht stehenden Bergen, eisblauen Seen, höhlenähnlichen Tunneln und grünen Tälern war wirklich aufregend schön.

Eine besondere Begegnung hatte ich mit Tommy aus dem Schwarzwald. Trotz des anhaltend guten Wetters ist der Wind doch manchmal so schneidend kalt, dass ich zumindest auf meine Langarm-Shirts nicht verzichten möchte. Tommy sah das etwas anders. Immer wenn ich ihn traf (auf der Straße oder einer Fähre), hatte er oben blank gezogen. Weder Wetter, noch Stechfliegen schienen seiner Haut etwas anhaben zu können. Er war bereits seid fast drei Monaten auf dem Rad und hatte die südlich gelegene Hardangervidda, die größte Hochebene Europas, noch im Schnee durchquert. Danach hatte er scheinbar seine gesamte Oberbekleidung als unnötigen Ballast betrachtet. Er berichtet, dass er auf Felsen geschlafen und sich im Meer gewaschen habe und wenn es nach ihm ginge, solle dieses Leben niemals enden. Die menschenleere norwegische Natur und das einsame Reisen mit dem Fahrrad geben tatsächlich ein neues Gefühl der Freiheit. An manchen Tagen löst diese Erfahrung eine grenzenlose Euphorie in mir aus. Man fühlt sich, als könne man alles schaffen. Alles ist möglich und nichts kann einen stoppen. Was hier passiert, geschieht nicht mit dir, es kommt allein aus dir selbst. Es ist ein schöner Schwindel der Freiheit, das Gefühl sein Leben zu führen, statt geführt zu werden. Tommy ist diesem Gefühl bereits erlegen. Er wolle sich auf den Lofoten um Arbeit bemühen und so schnell erst mal nicht mehr nach Deutschland zurückkehren.


Frischer Fisch, Cognac und ein Federbett - zu Gast in Bodø


Meine Reise führt mich weiter nach Bodø. Über Freunde meiner Eltern, habe ich eine Telefonnummer eines Bekannten, der vor Jahren hierher ausgewandert ist und der sich sicher über meinen Besuch freuen würde hieß es. Mir ist es eigentlich gar nicht so recht, mich bei jemanden einzuladen, der mich nicht kennt und den ich noch nie zuvor getroffen habe. Als ich Sigi, so der Name des fremden Bekannten, anrufe und frage, ob ich sein Angebot wahrnehmen dürfe, erfahre ich, dass er gerade Besuch aus Deutschland habe, was die Sache etwas verkompliziere. Ich könne aber gerne auf einem Sofa schlafen, wenn mir das nichts ausmache. Daraufhin fühle ich mich erst recht wie ein Störenfried, nehme aber trotz meines schlechten Gewissens an. Auf dem Weg nach Bodø komme ich an Saltstraumen vorbei, dem stärksten Gezeitenstrom der Welt. Durch den engen Sund werden in kürzester Zeit gewaltigen Wassermassen und damit riesige Mengen Fisch gezogen, was ihn zu einem wahren Anglerparadies macht. Nicht zum ersten Mal bereue ich es, dass ich keine Angelrute, geschweige denn Ahnung vom Angeln habe. Meine Befürchtungen, dass ich mit meinem spontanen Besuch bei Sigi nicht willkommen sein könnte, erweisen sich bereits kurz nach meiner Ankunft als unbegründet. Ich wasche meine Klamotten, nehme eine heiße Dusche, genieße ein fantastisches Abendessen mit Sigi und den übrigen Gästen. Frisch gefangener Fisch, Salate, Kartoffeln - das alles fühlt sich wie eine vorzeitige Belohnung an, für die Kilometer, die hinter mir liegen. Es folgen Kaffee und Cognac auf der Terrasse, nette Gespräche und die bisher hellste Nacht meines Lebens. So schön die norwegische Freiheit, dieses einsame Hochgefühl auch ist, merke ich doch mal wieder, wie angenehm die Gesellschaft anderer Menschen, wie bequem das normale Leben ist und wie unverzichtbar Freunde und Familie sind "...Und dann merkst du allmählich, dass die Welt gar keine Taten und Opfer verlangt, dass das Leben keine heroische Dichtung ist..., sondern eine gut bürgerliche Stube, wo man mit Essen und Trinken, Kaffee und Stickstrumpf, Tarockspiel und Radiomusik vollkommen zufrieden ist." Wie es der Zufall will, lese ich vor dem Einschlafen in meiner Reiselektüre genau diese Zeilen und kann nur sagen: "Bingo Hesse - du sprichst mir gerade aus der Seele!" Der Weg, der noch vor mir liegt, bis zum Nordkap, erscheint plötzlich nicht mehr besonders reizvoll, schließlich wird es in der ewig langen Taiga Lapplands erst so richtig einsam. Ich beschließe aber mir darüber Gedanken zu machen, wenn ich auf den Lofoten angekommen bin und die einlullende Wärme des Cognacs in meinem Bauch verschwunden ist.

Angekommen am Å der Welt

Die Fähre nach Moskenes (Lofoten) geht früh am nächsten Morgen. Das Bergmassiv, das die Inselkette wie einen riesigen unbewohnbaren Asteroiden erscheinen lässt, ist bereits von Weitem zu sehen. Ich beschließe, als aller erstes bis an die äußerste West-Spitze der Lofoten zu fahren. Auf der engen Straße reiht sich Wohnwagen an Wohnwagen. In manchen Kurven müssen sich die Camper regelrecht am Gegenverkehr vorbei drücken und ich muss höllisch aufpassen, das ich nicht unter die Räder komme. Am Ende der Inselkette erreiche ich das kleine Dorf mit dem großen Namen "Å". Ich fahre so lange es noch eine Straße gibt, dann nur noch einen Weg, dann schiebe ich mein Rad über eine Wiese bis zur Felsenküste. Ich bin da. Das Ende der Lofoten. Es fühlt sich an, wie das Ende der Welt. Und wen sehe ich da? Tommy aus dem Schwarzwald. Er trägt ein T-Shirt! Wir teilen Kekse und Kaffee und, obwohl ich es noch nicht weiß, ist das Nordkap in diesem Moment für mich gestorben.


Sightseeing auf den Lofoten



Was lese ich da? Diese Inseln heißen ja gar nicht Lofoten! Jedenfalls nicht auf Deutsch. Auf Norwegisch sind es zwar "Lofoten", doch das Wort beinhaltet bereits den bestimmten Artikel ("-en" am Ende). Somit heißt die korrekte deutsche Übersetzung "Der Lofot". Ich bin hier also auf der Insel Lofot, sagt mir eine deutsche Touristeninformationsbroschüre. "Ja, das ist ja mal eine handfeste Überraschung", denke ich und vergesse den unnützen Hinweis sofort wieder. Eigentlich bin ich in die Touristeninfo gekommen, um zu erfahren, was es hier auf den LOFOTEN so zu sehen gibt. Ich will Sightseeing machen, mir mal ein paar Tage frei nehmen. Ein paar Stunden auf diesem Landzapfen im hohen Norden genügen und man erkennt, dass die Lofoten ein besonderes Fleckchen Erde sind. Um genauer zu sein, kommt es mir vor, als wäre ich bisher nur durch Vororte geradelt, um nun endlich in Norwegen anzukommen. Norwegischer als hier geht's nun wirklich nicht mehr. Ich beschließe, mir am nächsten Tag Nusfjord, ein altes Fischerdorf aus dem 18. Jahrhundert anzuschauen. Zuvor jedoch werde ich nachholen, was schon lange überfällig ist: Ich werde mir ein Plätzchen am Meer suchen und endlich mal die Mitternachtssonne genießen. Ein Kiosk-Verkäufer, den ich frage, wo ich einen geeigneten Aussichtspunkt für das Schauspiel finden könne, schickt mich nach Utakleiv. Dies sei nach Meinung des Einheimischen genau der Ort, den ich suche. Allerdings fügt er hinzu, dass die Sonne heute aufgrund des bewölkten Himmels wohl nicht zu sehen sein wird und ich müsste schon ein verdammter Glückspilz sein. Ich überlege, dass ich in den fünf Wochen, die ich nun schon unterwegs bin, überhaupt erst zwei oder drei Regen-Tage hatte - und das war eigentlich auch eher Niesel. Also antworte ich wahrheitsgetreu: "I am a lucky guy!" Doch kaum hatte ich diese Worte im Brustton der Überzeugung über die Ladentheke geschmettert, kamen mir erste Zweifel. Diese Wolken dort sehen wirklich nicht so aus, als ob sie den Sonnenstrahlen heute noch eine Chance bieten wollten.

Im Land der Mitternachtssonne 

Bereits auf dem Weg an die Nordküste fängt es an zu tröpfeln und später am Abend wird der Regen sogar noch stärker. Ich verkrieche mich in meinem kleinen Tunnelzelt, das ich an einem herrlichen Platz - der gute Mann im Kiosk hatte auch damit recht - auf einem Grünstrand direkt am Wasser aufgestellt habe und döse langsam zu dem Geräusch von tausenden kleinen Trommelschlägen ein. Später in der Nacht wache ich kurz auf. Was war das? Hab ich das richtig gesehen? Ich trau meinen müden Augen nicht. Zuerst glaube ich, neben mir hat jemand ein Feuer gelegt, denn mein Zelt, das normalerweise dämmrig weißes Licht herein lässt, leuchtet nun in hellroter Farbe. Ich öffne den Eingang ein Spalt und sehe das schwarze Nordmeer an dessen Ende die Sonne, nunmehr ein knall rot-oranger Feuerball, knapp über dem Horizont ein Wolkenloch gefunden hat und mein Zelt in Flammen setzt. Ich bin sicher, hätte Gott Atomraketen, würde er sie wohl mit diesem Knopf abfeuern. "Es ist nur die Sonne, die ich schon hundertmal so gesehen habe", versuche ich mir klar zu machen, um mich auf den Boden der Tatsachen zu holen. Es funktioniert aber nicht. Ich weiß, es ist jetzt 0:45 Uhr und da ist dieses Ding und ab jetzt wird es nur noch heller. Es ist unwahrscheinlich schön. Und irgendwie denke ich, dieser Moment ist jetzt verloren, weil ich ihn nur für mich alleine habe.

Zur Abwechslung: Ein Ausflug mit dem Rad 
Ich habe noch nie Eintritt für ein Dorf gezahlt. Hatte ich nicht erst gerade 'ne Menge Geld bezahlt, um mein Dorf in Deutschland verlassen zu können? Beißende Ironie! Um Nusfjord betreten zu dürfen, muss ich neue Wege beschreiten und einen stattlichen Wegzoll abdrücken. Es ist ein nettes kleines Nest, voll mit bunten alten Fischerhütten, einem Museum und vielen, aber zu nicht zu vielen Touristen. Dennoch bin ich froh, dass ich bei dem 80 Kilometer-Fahrradausflug ausnahmsweise mal ohne Gepäck unterwegs bin, ansonsten hätte ich mich über den Aufwand wohl geärgert. Seit dem Erlebnis vor ein paar Nächten sind die Sonne und ich dicke Kumpels geworden. Sie scheint und wärmt wo ich in diesem Land gehe und stehe. Und auch die bunten Rorbuer-Hütten in Nusfjord kann ich bei blauem Himmel in den schönsten Farben fotografieren. Wir hätten zusammen alt werden können, doch die norwegische Sonne ist eine launische Braut (was für ein Satz!). Das gute Wetter ist ein Tag später - es ist mein letzter auf den Lofoten - bereits Geschichte. Ich kann die Wolkenwand schon von Weitem beobachten, wie sie langsam über das Meer auf mich zu rollt. Es dauert nicht lange und tief hängende, graue Wolken Auf dem Weg nach Tromsø wickeln sich lustig um die Gipfel der Berge und schließlich hüllen sie auch mich in einen klebrig feuchten Nebel ein. Die Temperatur ist rapide gesunken, auf dem Rad weht ein kalter Wind und mittlerweile regnet es wieder, trotzdem mach ich mich nun weiter in Richtung Norden auf. Mein Weg bringt mich über die Vesterålen, der nördlich der Lofoten gelegenen Inselgruppe, über die Insel Senja nach Tromsø - die Stadt, von der aus der norwegische Nationalheld Roald Amundsen zu seinen Expeditionen in das Polarmeer aufbrach.
Nachdem ich mich an die Anstrengungen der fünf bis sechs stündigen Radtouren gewöhnt hatte, scheint jetzt nun wirklich eine neue Herausforderung auf mich zu warten. Zwar waren Straßen und Landschaft zuletzt schön flach, doch musste ich ständig im eiskalten und feuchten Gegenwind radeln. Ich trage Handschuhe und Fließjacke. Es ist Juli aber ich komme mir vor, wie auf einer Radtour im herbstlichen Holland. Ich erinnere mich daran, dass ich immerhin schon über 300 Kilometer nördlich des Polarkreises bin - ein Gedanke, der mir hilft, die Witterung besser zu ertragen. Kurzzeitig unterbreche ich sogar meine Fluch-Tiraden, die auf dem Rad schon zu einer Art Mantra geworden sind. Richtig hart wird es dann aber auf der Insel Senja. Auf der Fährüberfahrt über das aufgewühlte offene Polarmeer umfängt mich eine hartnäckige Übelkeit, die ich den ganzen Tag nicht mehr loswerde. Trotz dieser Formkrise, muss ich zwei ordentliche Bergkuppen überqueren, die mich bis an die Schneegrenze führen. Bei der Abfahrt klammer ich mich, trotz aller Klamotten am Leib, zitternd an den Lenker. All das hat aber auch seine gute Seiten. Je kälter, je nasser, je größer die Qual, desto mehr freut man sich an Dingen, wie dicke trockene Socken, einem heißen Kaffee oder dampfende Duschen.

Bis hier hin und nicht weiter 
Ich erreiche Tromsø an einem trockenen Abend. Die Einfahrt in die Stadt, nach einer über 90 Kilometer langen Tagesetappe, ist sicherlich eines der schönsten Erlebnisse dieser Reise bisher. Die Luft ist kristallklar, wie an einem milden Wintertag in Deutschland. Das Wetter hat sich beruhigt und schüchterne Sonnenstrahlen bringen die schneebedeckten Berge ringsum Tromsø zum glänzen. Meine Vorfreude auf die Stadt ist groß, immerhin gilt sie als das Paris des Nordens. Tromsø ist die Stadt mit der nördlichsten Universität und - für ein Kind des Ruhrgebiets noch bedeutender - mit der nördlichsten Brauerei der Welt. Sie wird das "Tor zum Eismeer", "Eismeerstadt" oder eben "das Paris des Nordens" genannt. Meinetwegen könnte sie "Stadt der meisten Beinamen" heißen, das wäre wohl treffender als ein Vergleich mit der französischen Metropole. Ganz ehrlich: Tromsø hat für mich den weltstädtischen Charme Bochum-Wattenscheids. Ich verbringe die meiste Zeit in Museen, im Botanischen Garten und der Bibliothek (des Internets wegen). Die Innenstadt war bereits am späten Nachmittag ausgestorben. Als ich vor der berühmten Eismeer-Kathedrale stehe, stelle ich fest, das sie nicht mehr ist, als eine merkwürdig geometrische Dorfkirche. Meine Erschöpfung mischt sich mit Enttäuschung. Liegt es wirklich an Tromsø oder liegt es an mir? Ich glaube, weiter im Norden werde ich nicht glücklich. Ich erfahre im Internet, dass das Wetter da oben noch schlechter werden soll und spätestens jetzt weiß ich, dass mein Hinweg beendet ist. Tromsø ist nicht zwar nicht das Nordkap, doch am Nordkap gibt es keine Brauerei. Morgen werde ich umkehren.

Der Magic-Bus-Day

Würde man Norwegen an seinem südlichsten Punkt der Länge nach umdrehen, läge das Nordkap in der Sahara. Ja, es ist tatsächlich ein sehr, sehr langes Land. Die Distanzen, die ich an jedem Tag der ersten Woche zurücklege sind daher auf der Karte so klein, dass es mich allabendlich deprimiert. Doch ich stelle fest, dass mir das Radeln immer leichter fällt. Ich gewöhne mich immer besser an das Alleinsein und an das Unterwegssein. Ich notiere in mein Reisetagebuch: "Es scheint, dass ich über den Berg bin, vielleicht kann ich jetzt die Abfahrt genießen." Anfang der zweiten Woche im Sattel schramme ich schon knapp an der 100 Kilometer Tagesmarke vorbei. Doch während ich langsam besser werde, lässt leider mein Drahtesel nach. Ein Platten im Vorderreifen, den ich mir in Steinkjer eingefahren hatte, musste bereits geflickt und eine Halterung meines Gepäckträgers sowie eine Acht im Hinterreifen mussten repariert werden. Der Ruhetag in Steinkjer eignete sich hervorragend, um sich dieser Probleme anzunehmen und ich hätte bestimmt nicht von einer Pechsträhne gesprochen, wenn nicht diese eine Fahrt, dieser Höllenritt nach Rørvik gewesen wäre. 

Im Kampf mit der norwegischen Natur 

Ich habe einen wunderbaren norwegischen Sonnentag hinter mir. Die Straße führt heute nicht so dicht an der Küste entlang. Stattdessen radele ich in sommerlicher Hitze zur Abwechselung mal durch die Felder des Hinterlandes. Das bedeutet weniger Wind und höhere Anstiege. Doch die Gegend sollte eine ganz besondere Überraschung bereit halten. Ich klettere gerade mal wieder einen dieser Berge hoch, die mich bis in eine ganz neue Vegetationszone führen, als ich einen Stich spüre. Ich schaue auf meinen rechten Unterschenkel, der vor Schweiß in der Sonne glänzt und entdecke einen dicken Brummer, der sich offensichtlich an meinem Blut labt. Und da sehe ich noch einen. Und auf meinem T-Shirt noch einen, nein zwei, drei. Ich werde angegriffen. Das ist keine Übung! Sofort schlage ich wild um mich, um diese norwegischen Pferdefliegen zu vertreiben. Doch sie verfolgen mich. Ich bin zu langsam hier am Berg und muss Vollgas geben. Erst als es wieder bergab geht, lassen sie mich in Ruhe. Die Freude hält nur kurz. Am nächsten Anstieg sind sie wieder da. Ich muss versuchen den Fahrtwind beizubehalten und gebe alles. Das ist aber nicht leicht, wenn man damit beschäftigt ist, sich wie beim Schuplattler auf die Schenkel und die Arme zu hauen, um diese Blutsauger zu vertreiben. Je mehr ich mich anstrenge, schwitze ich und desto mehr Angreifer scheinen dadurch angelockt zu werden. Ich befinde mich in einer regelrechten Insektenwolke. Links und rechts große Vieh-Weiden. Ich muss lachen - stelle mir vor, wie das hier aussehen mag und sehe mich selbst, mittlerweile so vermummt es nur geht, um mich schlagend, extrem schwitzend mit Stinke-Linien über meinem Kopf und umringt von Fliegen. Dann lache ich nicht mehr: Mein Hinterreifen verliert Luft. Ich habe schon wieder einen Platten, dieses Mal hinten. Mein erster Verdacht gilt den Stechfliegen. Könnte es tatsächlich sein, dass sie...? Der Gedanke an einen plötzlichen Evolutionsschub der Fliegen in Richtung intelligentes Leben lässt mich schaudern. Wie auch immer, ein platter Hinterreifen würde bedeuten, das ganze Gepäck runter vom Gepäckträger, Reifen flicken, wieder aufladen, weiter fahren. In der Zeit wäre ich sicher tot, zumindest bräuchte ich wohl eine Infusion mit frischem Blut. Ich wähle Plan B und füge der Slapstick-Nummer ein weiteres Puzzle-Stück hinzu: Maximales Abzappeln am Berg, wild um mich schlagen, Stinkelinien, Abspringen, Reifen aufpumpen, vollständige Einhüllung in eine Insektenwolke, noch mehr schlagen, aufspringen, Kampfschrei, strampeln...Dann, beim x-ten Mal Aufpumpen, kippt in der Hektik das Rad und fällt hin. Als ich die Arbeit wieder aufnehmen möchte, merke ich, dass der Ventilstift abgebrochen ist. Noch einmal, ein letztes Mal kann ich den Reifen leer fahren, dann ist Schluss.

Pleiten, Pech und Pannen

95 Kilometer habe ich hinter mir. Mittlerweile bin ich aber wieder in der Nähe der Küste und der Fliegen- Schwarm lässt langsam von mir ab. Ich kontrolliere meinen Reifen und sehe, dass nun auch der Mantel löchrig ist. Zu lange fahre ich wohl schon auf dem fast luftleeren Schlauch herum. Es geht nicht mehr weiter. Nun heißt es schieben. Die letzten Kilometer haben ihre Spuren hinterlassen und ich gehe mal wieder auf dem Zahnfleisch. Ich stelle mich darauf ein, dass ich wohl auf dem Feld neben der Straße zelten werde. Entweder schaffe ich es dann morgen meinen völlig ramponierten Reifen wieder hinzukriegen oder ich muss die gut und gern zehn Kilometer bis nach Rørvik, die nächstgelegene Stadt, schiebend zurücklegen. Als ich am Straßenrand sitze und meine Optionen überdenke, hält ein mit einer vierköpfigen Familie fast vollbesetzter Kombi neben mir. Der Mann am Steuer fragt mich irgendetwas auf norwegisch, dann auf schlechtem Englisch. Er will wissen, ob ich Hilfe brauche und redet von irgendeinem Campingplatz. Ich kann den Sinn allerdings nicht ganz entschlüsseln. Ich antworte auf englisch und mit Händen und Füßen. Dann deutet er an, dass er meine Taschen in seinen Kofferraum laden könnte, was ich freundlich aber bestimmt ablehne. "Ich lasse mich doch jetzt nicht noch beklauen - wäre ja noch schöner", denke ich. Dann bin ich wieder alleine. Ein Campingplatz klingt echt verlockend. Wenn der Norweger jedoch denjenigen Platz meinte, der auf meiner Karte eingezeichnet ist, dann ist er in etwa soweit entfernt, wie die Stadt Rørvik.

Happy End dank Magic-Bus

Es wird langsam später Abend. Ich beginne wieder mit dem Schieben, vielleicht finde ich einen etwas besseren Schlafplatz, vielleicht muss ich das Stück dann morgen nicht mehr Schieben. Ich könnte noch mehrere Stunden laufen und es würde immer noch nicht dunkel werden. Warum ich tatsächlich noch weiter schiebe - keine Ahnung! Eine Wiese ist so gut wie jede Andere. Beim Wild-Zelten hat man manchmal ein mulmiges Gefühl, das meistens spätestens dann verschwunden ist, wenn man erstmal im Zelt liegt. Es dauerte bis jetzt fast nie länger als vielleicht fünf oder zehn Minuten und ich war im Land der Träume. Die Verlockung, nach so einem harten Tag einen Campingplatz zu finden war aber irgendwie stärker als meine Müdigkeit. Doch der Weg schien kein Ende zu nehmen. Ich habe gerade einmal die ersten zwei Kilometer geschafft, da hält erneut ein Fahrzeug neben mir, diesmal aus der anderen Richtung kommend. Ich traue meinen Augen nicht. Es ist ein VW-Transporter und in ihm sitzt wieder der Kombi-Fahrer von vorhin. Sein Kollege am Steuer, der Kolbein heißt, wenn ich richtig verstanden habe, erklärt mir, dass ihm ein Camping-Platz gehört und ob ich vielleicht eine Mitnahme-Möglichkeit bräuchte. Ich kann mein Glück kaum fassen und muss Wasser trinken, damit ich meine zittrige Stimme in den Griff bekomme.

Als ich am nächsten Morgen meinen Reifen inspiziere, erkenne ich, dass der Mantel an mehreren Stellen aufgeschlitzt und der Schlauch praktisch auch nicht mehr zu gebrauchen ist. Und auch dieses Mal bekomme ich die Gastfreundschaft der Norweger zu spüren, als mich Kolbein einlädt mit ihm in die Stadt zu fahren. In Rørvik kaufe ich Ersatz für die kaputten Teile und eine Flasche Wein, für meinen Helfer. Auf dem Camping-Platz bleibe ich daraufhin noch eine Nacht länger. Ich bin fast der einzige Gast. Am Abend setze ich mich vor mein Zelt, lese mein Buch, schreibe Briefe und genieße das sanfte Brummen, das aus dem Mückenvernichter nicht weit von meinem Zelt ertönt. Eine solche Maschine habe ich vorher noch nie gesehen und bin völlig fasziniert, wie effektiv sie funktioniert: Menschen 1, Insekten 0!

Montag, 11. März 2013

In Steinkjer am Scheideweg


 
"Und Du fährst so ganz alleine?" Lerne ich hier Menschen kennen, ist das spätestens der dritte Satz in einem Gespräch. Radreisende, die auf Begleitung verzichten, sind hier an der Westküste Norwegens nun wirklich keine Seltenheit. Dennoch scheint mein Solo-Ausritt für Verwunderung zu sorgen. "Nun, meine Freunde hatten keine Zeit oder keine Lust und es war schon immer mein Traum...jetzt oder nie...", so oder so ähnlich klingt die Antwort, die ich mir zurecht lege. So richtig stimmt es ja nicht. Irgendwie ist es ja schon so, wie es auf den ersten Blick scheint. Es ist, so abgedroschen es klingen mag, tatsächlich ein Versuch, mich selber besser kennenzulernen, je weiter ich mich örtlich entferne, näher zu mir zu kommen, ja meinetwegen ist es halt ein "Selbstfindungstrip". Ich hasse den Begriff. Er klingt irgendwie esoterisch angehaucht. Die erste Woche auf dem Rad in Norwegen ist jedenfalls keine Selbstfindung, sondern höchstens eine "Selbstzurechtfindung". Tatsächlich drehen sich meine Gedanken vor allem um die essentiellen Themen: Kilometer, Essen, Trinken und Schlafen. Eine weitere Sorge löst sich, angesichts der einladenden öffentlichen Toiletten, sehr bald in Wohlgefallen auf. Wie sagte mal ein berühmter Dichter: "Den Grad der Kultur einer Nation erkennt man an dem Zustand ihrer Toiletten" - oder so ähnlich. Norwegen jedenfalls ist unübersehbar eine Hochkultur.


Die Etappen der ersten Woche sind schon ziemlich anstrengend. Und das, obwohl ich mit ca. 50-60 Kilometern pro Tag noch weit unter dem liege, was ich mir erhofft hatte. Wenn ich mich nicht bald steigere, werde ich es schon aufgrund der mir zur Verfügung stehenden Zeit nicht bis zum Nordkap schaffen. Nach  der täglichen Fahrerei kann ich gerade noch mein Zelt aufbauen und mir etwas zu Essen kochen, dann fallen mir auch schon die Augen zu. Eigentlich will ich noch etwas Lesen und vielleicht ein paar Zeilen schreiben. Keine Chance! Auf dem Rad denke ich viel über Essen nach. Ich habe eigentlich immer Hunger, obwohl ich morgens ordentlich Müsli und Brote und abends so viel Nudeln esse wie ich schaffe und es mir auch sonst an nichts mangelt. Natürlich versucht man mit möglichst leichten Taschen zu fahren, so dass man nur das Nötigste an Nahrung und Getränken mit sich führt. Ich suche also jeden Tag aufs Neue einen Supermarkt auf und muss mich daher auch jeden Tag aufs Neue über die Preise ärgern. Die Supermarkt-Landschaft hier ist eine andere als in Deutschland. Es gibt im Wesentlichen zwei verschiedene Ladenketten - die eine ist teuer, die andere ist noch teurer. Lebensmittel wollen hier wohl ausgewählt werden, möchte man zwei Monate mit einem kleinen Budget auskommen.

Die Atlantikstraße

Des schnöden Mammons wegen, hatte ich mir auch vorgenommen, so oft es möglich ist, wild zu zelten. Dies ist in Norwegen dank des "Jedermannsrecht" unter bestimmten Voraussetzungen gestattet. Auf der Straße E64 nach Kristiansund habe ich bei der Suche nach einem Schlafplatz zwar das Recht auf meiner Seite, doch die Landschaft gegen mich. Ich habe mir seit der anstrengenden Anreise per Bahn und Schiff noch keine längere Pause gegönnt und auch heute war es mal wieder ein langer Tag im Sattel. Ich muss erst noch herausfinden, was ich auf dem Rad leisten kann und stelle fest, dass ich heute wohl zu weit gegangen bin. Mein Weg führte mich über die Atlantikstraße, die von den Norwegern zum "Bauwerk des Jahrhunderts" gewählt wurde. Die Straße ist eigentlich eine einzige Aneinanderreihung von mehreren spektakulären Brücken. Sie windet sich wie ein verdrehtes Kabel von einer Insel zu nächsten. Ich fühle mich, wie auf einer Carrera-Bahn - nur das es keine Stromschienen gibt, die mich antreiben. So schön es ist, auf dieser Straße über das Meer zu gleiten, es ist auch eine Kraftleistung. Jede neue Brücke bedeutet auch einen neuen steilen Anstieg. Der Wind hier draußen macht es nicht einfacher. Mal schiebt er mich zur Seite, mal drückt er von vorne. Als es Abend wird, bemerke ich, dass diese felsige Küstenlandschaft nicht gerade geeignet ist, um sein Zelt darauf zu setzen. Doch sehr weit komm ich heute nicht mehr. Meine Beine sind bloß noch leere Hülsen. Ich bin mir längst nicht mehr sicher, ob meine Beine die Pedale antreiben oder ob die Pedale sie antreiben.

Der Camping-Garten auf Averøy

Auf der Insel Averøy frage ich einen Mann, den ich zufällig an der Zufahrt zu seinem Haus treffe, ob er vielleicht einen guten Ort wüsste, an dem ich über Nacht mein Zelt stehen lassen könnte. Er schaut die Straße herunter als gäbe es da irgendetwas zu sehen und sagt, dass ich schätzungsweise in 10 oder 15 Kilometern an einen Camping-Platz käme. Die Antwort habe ich nicht gerade erhofft und scheinbar kann man die Enttäuschung an meinem erschöpften Gesicht ablesen. "Wenn du willst, kannst du dein Zelt auch da auf den Rasen setzen", schiebt derNorweger hinterher und deutet auf das Gebüsch vor seinem Haus. Zwar kann ich beim besten Willen von meiner Stelle aus kein Stück Rasen erkennen, doch ist mir das mittlerweile auch egal. Ich bin müde und würde meinetwegen auch auf einem Rhododendron schlafen. Doch der Mann kannte sein Grundstück besser. Geschützt von allerlei Gestrüpp und unter einem Balkon kann ich mein Zelt problemlos aufbauen. Mit so einer Gastfreundlichkeit hatte ich nicht gerechnet. Doch sollte ich noch mehr als ein Mal erfahren, dass die oft als kalt geltenden Nordmenschen in Wirklichkeit eine besondere, weil unaufdringliche Herzlichkeit besitzen. Ich bedanke mich überschwänglich. Nachdem ich erklären musste, dass meine Freunde keine Zeit oder keine Lust hatten, mich zu begleiten, schlafe ich, noch lange bevor die Sonne ihre kurze Pause einlegt, zufrieden ein.

 

Am Scheideweg

Am Ende der ersten Woche erreiche ich Steinkjer. Es ist für mich eine wichtige Wegmarke. Die Stadt ist mit ihren rund 20.000 Einwohnern vorerst die letzte größere Stadt auf dem Weg nach Norden. Ich bin hier. Das bedeutet ich komme mit meinen kleinen Etappen tatsächlich immer weiter voran und ich kann es sogar bis zum Nordkap schaffen, wenn ich will. Es heißt auch, dass ich mich nun entscheiden muss, wie ich von hier aus weiter fahre. Hinter Steinkjer gibt es im Wesentlichen nur noch zwei Straßen, die weiter nach Norden führen. Nehme ich die landschaftlich reizvolle aber längere Küstenstraße 17, den sogenannten Kystriksveien, oder die E 6, die mich wohl auf kürzerem Weg zum Nordkap führen würde? Eine Begegnung sollte mir zu meinem großen Glück diese Entscheidung abnehmen. In den Städten ziehe ich es vor, auf Camping-Plätzen zu schlafen, jetzt am Ende der ersten Woche umso mehr, da ich wirklich einen Ruhetag gebrauchen kann. Ich esse an einem richtigen Tisch und genieße eine lange warme Dusche. Als ich zu meinem Zelt zurückkehre, sehe ich, dass ein weiterer Radreisender angekommen ist. Als erstes bemerke ich den Aufkleber auf den Satteltaschen seines Rennrades. "Danish Dynamite" steht darauf. Der Fremde hat gerade begonnen sein Zelt auszupacken. Keine fünf Minuten später steht das Teil fertig da und der Kollege hat bereits seinen Gaskocher angeschmissen. Ich kann nur staunen. Olaf, wie der Fahrradfahrer heißt, ist überhaupt eine echte Erscheinung. Den Aufkleber hat er jedenfalls verdient, denn, wie sich herausstellt, ist er nicht nur Däne, sondern vor allem auch Dynamit. Er ist sehnig wie ein Marathon-Läufer, breitschultrig und braun gebrannt wie ein polnischer Erntehelfer, dabei hat er die 40 offensichtlich schon lange überschritten. Seine Waden sind dick wie Brückenpfeiler. Kaum ein Quadratzentimeter Lederhaut auf seinen Beinen, der nicht mindestens zwei oder drei Mückenstiche aufweisen würde. Keine Frage, ich habe eine radreisende Frontsau vor mir. Ich muss meinen Mut sammeln, um zu fragen, wo er herkommt. Mit unüberhörbarem Stolz in der Stimme sagt er, er sei vor acht Tagen vom Nordkap gestartet und jeden Tag, trotz Schnee und Regen in Lappland, fast 200 Kilometer auf der E6 runtergestrampelt. Und ich glaube ihm. In dem Moment weiß ich, welchen Weg ich einschlagen würde. Meine Reise sollte eigentlich genau das Gegenteil werden, von dem, was mein Gegenüber macht. Jedenfalls will ich ganz sicher kein Rennen gegen die Zeit, nur um das Kap zu erreichen. Klar will ich es immer noch da hoch schaffen, aber nicht auf Kosten des Weges. Dank Olaf wusste ich nun wie es weitergehen sollte. So unterschiedlich unsere Vorstellungen einer Radwanderung waren, herrschte doch ein stillschweigendes Verständnis für den anderen. Jedenfalls fragte er nicht, warum ich so ganz alleine reise und ich ihn auch nicht.


Sonntag, 10. März 2013

Ankunft in Norwegen



Kein Reisebüro, kein Hotel, kein Plan, kein Urlaub. Es sollte kein Urlaub werden, es sollte eine Reise  werden - meine ganz persönliche Reise. Im Juni 2009 machte ich mich auf den Weg nach Norden mit meinem Fahrrad, einem Zelt und einer Straßenkarte von Norwegen. Fahrradfahren zählte zwar bis dahin nicht gerade zu meinen Hobbies und ich hatte seit Jahren keine längere Radtour als zum Bäcker um die Ecke gemacht, dafür aber hatte ich bis zu zwei Monaten Zeit. Ich wollte mich treiben lassen, und mal sehen wie weit ich mit dem Rad kommen würde...und hoffte dabei insgeheim das Nordkap zu erreichen.


So lang ich denken kann, gehe oder fahre ich diese Straßen entlang. Zur Schule, zum Job, zum Sport, zum Einkaufen. Als ich an diesem sonnigen Morgen im Juni 2009 durch meine Heimatgemeinde radele und die Menschen auf ihren alltäglichen Wegen beobachte, komme ich mir, mit all dem Gepäck auf meinem Sattel, vor, als wäre ich in einer fremden Stadt. Mein Ziel ist der Bahnhof, wo ich in einen Zug steigen würde, der mich zunächst einmal nach Dänemark brächte. Es wäre jetzt so einfach umzukehren, mal wieder Brötchen zu holen, in Ruhe zu frühstücken und so zu tun, als wäre nichts gewesen. Doch ich steige mit dem Fahrrad und dem ganzen Kram auf dem Gepäckträger in die Bahn und begreife erst danach, dass es jetzt wirklich losgehen sollte.

Erster Zwischenstopp - erste Ungewissheit

Der Zug bringt mich nach Frederikshavn. Eine Nacht würde ich dann in der dänischen Küstenstadt schlafen, um am nächsten Morgen die frühe Fähre nach Oslo nehmen zu können. Die Anreise mit der Bahn funktioniert zu meiner Überraschung recht gut. Ich habe noch keine Ahnung, ob ich mein Fahrrad auf dem Anschlusszug von der dänischen Grenze bis Frederikshavn überhaupt transportieren darf und befürchte schon, erst Dänemark durchradeln zu müssen, um nach Norwegen zu kommen. Das mehrmalige Umsteigen mit dem voll beladenen Fahrrad ist zwar recht stressig, aber jedes Mal klappt es reibungslos. Am Abend meines ersten Tages schlag ich neben dem Yachthafen in Frederikshavn zum ersten Mal das Zelt auf, das für die nächsten zwei Monate mein Zuhause sein wird. Obwohl ich bisher kaum im Sattel saß, sind sind die beiden Tage der Anfahrt nach Norwegen wahnsinnig anstrengend. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich eben noch nicht selber fahren darf, sondern ausschließlich gefahren werde. Die Ungewissheit, ob der geplante Fahrradtransport funktioniert, die Sorge, dass man etwas Wichtiges vergessen habe oder etwas am Rad kaputt gehen könnte, die emotionale Schere, zwischen Abenteuerlust und Abschiedsschmerz und die viele Zeit, in der ich über all das nachdenken kann, bereiteten mir Appetit- und Schlaflosigkeit.

Nichts außer Wald und Berge?

Den Tag auf der Fähre nach Oslo verbringe ich in der Sonne auf dem Oberdeck. Ich muss mich zwischenzeitlich daran erinnern, mal etwas zu trinken und zu essen, um es nicht zu vergessen. In Oslo angekommen, irre ich zunächst etwas orientierungslos durch die Stadt, finde aber schließlich den Busbahnhof. Mit dem Wissen, das es jetzt nur noch ein paar Stunden dauern wird, bis ich endlich selber losfahren kann, ist diese Busfahrt durch die langsam einsetzende Dunkelheit ein echtes Erlebnis. Ich kann einen ersten Blick auf die Landschaft Südnorwegens werfen. Die Dämmerung, die bis spät in die Nacht anhält, tauchte Wälder und Seen in ein sanftes rosa-lila Licht. Immer wieder starre ich durch die Frontscheibe des Busses, die schier endlose Straße entlang, um hinter dem nächsten Hügel einen Blick auf die untergehende Sonne zu erhaschen und immer wieder sieht man nichts außer diesen seltsam eingefärbten Wald. "Hier sollst du Radfahren? Hier gibt es nichts außer Wald und Berge!", denke ich die ganze Zeit. Hinter meiner ganzen Idee erscheint plötzlich ein dickes Fragezeichen. An Schlaf ist nicht zu denken. Plötzlich hält der Bus. Die Pastelltöne sind weg, stattdessen ist überall weißer Dunst. Ich war eingenickt, habe vielleicht ein oder zwei Stunden gedöst. Mittlerweile ist es 5:40 Uhr. Ich muss raus aus dem warmen Bus, als Einziger. Die anderen Fahrgäste blicken mich mürrisch an, so als hätte ich gewollt, dass die einschläfernde Monotonie des brummenden Busses abbricht und sie dadurch aufgeweckt werden.

Die ersten Kilometer

Die Sonne hat es noch nicht über die Berge geschafft und mit 8 Grad ist es hundekalt. Da stehe ich nun, ganz alleine in einem Städtchen, deren Bewohner noch im Tiefschlaf liegen. Mein erster Gedanke nach dem Ausladen des Fahrrads ist: "Frühstücken!". Ich suche mir ein Plätzchen direkt am Wasser und koche auf meinem kleinen Gaskocher Kaffee. Und als die Sonne langsam den Dunst auf dem Romsdalsfjorden vertreibt, wird aus dem sterilem Weiß warmes Tageslicht. Mein erster Kontakt mit der norwegischen Fjordlandschaft haut mich regelrecht um. Das tiefe Blau des Meerwassers, die schroffen Felswände und die weißen Bergkuppen werden perfekt von der aufgehenden Sonne in Szene gesetzt. Hier und da plätschert ein "Wasserfällchen". Norwegen empfing mich von seiner schönsten Seite.

 
Die ersten Kilometer auf dem Rad sind herrlich. Ich fahre völlig alleine um den Fjord herum, nur alle paar Kilometer überholt mich mal ein Auto. Meine erste Etappe, die bis nach Molde, der Hauptstadt der Provinz Møre und Romsdal, führen soll, ist allerdings die reinste Wechseldusche. Steigt die Straße an, knallt mir die Sonne auf den Pelz und der Schweiß tröpfelt auf den Asphalt. Fahr ich in den Schatten, geht es mit sicherer Regelmäßigkeit wieder bergab und ich halte mich zitternd am Lenker fest. Hin und wieder muss ich Fjorde mit kleinen Fähren überqueren. Das bringt willkommenene Pausen, in denen man Durchatmen und sich Aufwärmen kann. Die Landschaft wirkt hier sehr viel offener und freundlicher als im Landesinneren. Hinter jeder Kurve wartet das Meer - ein Anblick, den ich als sehr viel angenehmer empfinde, als die unendliche Waldlandschaft, durch die mich der Bus chauffierte.

Die Gefahr unterschätzt 

Meine Reise fühlt sich plötzlich sehr richtig an. Das Gefühl der Zufriedenheit gibt mir bei jeder neuen Steigung wieder Anschub und lässt mich meine Beine vergessen, die nach 30 Kilometern bereits schmerzten und jetzt nach 40 Kilometern scheinbar schon im Muskelkater-Modus sind. Mein Eierkuchenfriede mit der Welt endet aber abrupt, als ich in ein dunkles Loch in dem Berg vor mir blicke: Ein Tunnel. Eigentlich nichts Neues, schließlich hatte ich schon früher an diesem Tag mehrere Tunnel problemlos durchfahren. Doch dieser ist anders. Schilder deuten an, dass dieses Exemplar 2,7 km lang sei und das Fußgänger und - weitaus ärgerlicher - auch Fahrräder darin nichts zu suchen hätten. Regeln sind wichtig, Regeln sind gut. Und diese hier hätte ich auch liebend gerne eingehalten. Allein die Alternative fehlte mir. Hatte ich vor einigen Kilometern eine Abzweigung übersehen? Nein, so weit ich mich erinnern kann, gab es eigentlich nur den einen Weg, auf dem ich hergekommen bin. Meine Beine senden mir unzweideutige Signale: An eine Rückfahrt, um einen Umweg zu suchen, der vielleicht gar nicht existiert, ist nicht zu denken. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der Verkehr hier kurz vor Molde beachtlich zugenommen hat. "Außerdem ist es ja auch nur ein weiterer Tunnel. Kennste einen, kennste alle!", denke ich. Also setze ich die Sonnenbrille ab, schalte die Fahrradbeleuchtung an und fahre hinein.

Zuerst geht es steil bergab. Das finde ich soweit in Ordnung. Nach über einem Kilometer rasender Abfahrt reift in mir allerdings die Erkenntnis, dass der zweite Teil vermutlich ebenso steil nach oben gehen würde. Wenig später wird diese Ahnung zur Gewissheit. "Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel" geht mir durch den Kopf, wohlweislich, dass dieser physikalische Satz mit der Art und Weise dieser Tunnelführung sicherlich nichts zu tun haben dürfte. Es hat keinen Sinn, sich zu wehren. Ich springe aus dem Sattel und fange an, meinen 30 kg schweren Untersatz zu schieben, das Tageslicht am Ende der Röhre jetzt fest im Blick. Die Autofahrer, die das Hindernis am Straßenrand umfahren müssen, tun dies nicht, ohne ausdrücklich kundzutun, dass sie meine eigenwillige Aktion missbilligen. Die Autos und LKW's rasen, obwohl eigentlich genug Platz vorhanden ist, dicht an mir vorbei und drücken dabei wie wild auf die Hupe. Ein Wagen tritt auf die Bremse, kuppelt aus und lässt den Motor direkt vor mir aufheulen. Ich will nur noch raus und gehe in den Laufschritt über. Abgase steigen mir in die Nase und der Schweiß, der mir zunächst nur kalt den Rücken runter läuft, perlt mir jetzt in die Augen. Die Hälfte des Anstiegs habe ich bereits geschafft, da fangen meine zuvor schon müden Waden an zu zwicken. Dann ist es endlich geschafft. Raus aus dem Tunnel und ab auf den nächsten begehbaren Randstreifen. Ich bin sauer: auf die norwegische Straßenführung, auf die wenig rücksichtsvollen Autofahrer und auf meine eigene Dummheit. Ich lege mich hin, versuche die Krämpfe in meinen Waden loszuwerden und genieße den frischen Sauerstoff. Ein Straßenschild spendet mir Schatten. Darauf steht: "Willkommen in Molde". Ich beende einen tiefen Schluck aus der Wasserflasche und seufze:
"Danke!"