Sonntag, 10. März 2013

Ankunft in Norwegen



Kein Reisebüro, kein Hotel, kein Plan, kein Urlaub. Es sollte kein Urlaub werden, es sollte eine Reise  werden - meine ganz persönliche Reise. Im Juni 2009 machte ich mich auf den Weg nach Norden mit meinem Fahrrad, einem Zelt und einer Straßenkarte von Norwegen. Fahrradfahren zählte zwar bis dahin nicht gerade zu meinen Hobbies und ich hatte seit Jahren keine längere Radtour als zum Bäcker um die Ecke gemacht, dafür aber hatte ich bis zu zwei Monaten Zeit. Ich wollte mich treiben lassen, und mal sehen wie weit ich mit dem Rad kommen würde...und hoffte dabei insgeheim das Nordkap zu erreichen.


So lang ich denken kann, gehe oder fahre ich diese Straßen entlang. Zur Schule, zum Job, zum Sport, zum Einkaufen. Als ich an diesem sonnigen Morgen im Juni 2009 durch meine Heimatgemeinde radele und die Menschen auf ihren alltäglichen Wegen beobachte, komme ich mir, mit all dem Gepäck auf meinem Sattel, vor, als wäre ich in einer fremden Stadt. Mein Ziel ist der Bahnhof, wo ich in einen Zug steigen würde, der mich zunächst einmal nach Dänemark brächte. Es wäre jetzt so einfach umzukehren, mal wieder Brötchen zu holen, in Ruhe zu frühstücken und so zu tun, als wäre nichts gewesen. Doch ich steige mit dem Fahrrad und dem ganzen Kram auf dem Gepäckträger in die Bahn und begreife erst danach, dass es jetzt wirklich losgehen sollte.

Erster Zwischenstopp - erste Ungewissheit

Der Zug bringt mich nach Frederikshavn. Eine Nacht würde ich dann in der dänischen Küstenstadt schlafen, um am nächsten Morgen die frühe Fähre nach Oslo nehmen zu können. Die Anreise mit der Bahn funktioniert zu meiner Überraschung recht gut. Ich habe noch keine Ahnung, ob ich mein Fahrrad auf dem Anschlusszug von der dänischen Grenze bis Frederikshavn überhaupt transportieren darf und befürchte schon, erst Dänemark durchradeln zu müssen, um nach Norwegen zu kommen. Das mehrmalige Umsteigen mit dem voll beladenen Fahrrad ist zwar recht stressig, aber jedes Mal klappt es reibungslos. Am Abend meines ersten Tages schlag ich neben dem Yachthafen in Frederikshavn zum ersten Mal das Zelt auf, das für die nächsten zwei Monate mein Zuhause sein wird. Obwohl ich bisher kaum im Sattel saß, sind sind die beiden Tage der Anfahrt nach Norwegen wahnsinnig anstrengend. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich eben noch nicht selber fahren darf, sondern ausschließlich gefahren werde. Die Ungewissheit, ob der geplante Fahrradtransport funktioniert, die Sorge, dass man etwas Wichtiges vergessen habe oder etwas am Rad kaputt gehen könnte, die emotionale Schere, zwischen Abenteuerlust und Abschiedsschmerz und die viele Zeit, in der ich über all das nachdenken kann, bereiteten mir Appetit- und Schlaflosigkeit.

Nichts außer Wald und Berge?

Den Tag auf der Fähre nach Oslo verbringe ich in der Sonne auf dem Oberdeck. Ich muss mich zwischenzeitlich daran erinnern, mal etwas zu trinken und zu essen, um es nicht zu vergessen. In Oslo angekommen, irre ich zunächst etwas orientierungslos durch die Stadt, finde aber schließlich den Busbahnhof. Mit dem Wissen, das es jetzt nur noch ein paar Stunden dauern wird, bis ich endlich selber losfahren kann, ist diese Busfahrt durch die langsam einsetzende Dunkelheit ein echtes Erlebnis. Ich kann einen ersten Blick auf die Landschaft Südnorwegens werfen. Die Dämmerung, die bis spät in die Nacht anhält, tauchte Wälder und Seen in ein sanftes rosa-lila Licht. Immer wieder starre ich durch die Frontscheibe des Busses, die schier endlose Straße entlang, um hinter dem nächsten Hügel einen Blick auf die untergehende Sonne zu erhaschen und immer wieder sieht man nichts außer diesen seltsam eingefärbten Wald. "Hier sollst du Radfahren? Hier gibt es nichts außer Wald und Berge!", denke ich die ganze Zeit. Hinter meiner ganzen Idee erscheint plötzlich ein dickes Fragezeichen. An Schlaf ist nicht zu denken. Plötzlich hält der Bus. Die Pastelltöne sind weg, stattdessen ist überall weißer Dunst. Ich war eingenickt, habe vielleicht ein oder zwei Stunden gedöst. Mittlerweile ist es 5:40 Uhr. Ich muss raus aus dem warmen Bus, als Einziger. Die anderen Fahrgäste blicken mich mürrisch an, so als hätte ich gewollt, dass die einschläfernde Monotonie des brummenden Busses abbricht und sie dadurch aufgeweckt werden.

Die ersten Kilometer

Die Sonne hat es noch nicht über die Berge geschafft und mit 8 Grad ist es hundekalt. Da stehe ich nun, ganz alleine in einem Städtchen, deren Bewohner noch im Tiefschlaf liegen. Mein erster Gedanke nach dem Ausladen des Fahrrads ist: "Frühstücken!". Ich suche mir ein Plätzchen direkt am Wasser und koche auf meinem kleinen Gaskocher Kaffee. Und als die Sonne langsam den Dunst auf dem Romsdalsfjorden vertreibt, wird aus dem sterilem Weiß warmes Tageslicht. Mein erster Kontakt mit der norwegischen Fjordlandschaft haut mich regelrecht um. Das tiefe Blau des Meerwassers, die schroffen Felswände und die weißen Bergkuppen werden perfekt von der aufgehenden Sonne in Szene gesetzt. Hier und da plätschert ein "Wasserfällchen". Norwegen empfing mich von seiner schönsten Seite.

 
Die ersten Kilometer auf dem Rad sind herrlich. Ich fahre völlig alleine um den Fjord herum, nur alle paar Kilometer überholt mich mal ein Auto. Meine erste Etappe, die bis nach Molde, der Hauptstadt der Provinz Møre und Romsdal, führen soll, ist allerdings die reinste Wechseldusche. Steigt die Straße an, knallt mir die Sonne auf den Pelz und der Schweiß tröpfelt auf den Asphalt. Fahr ich in den Schatten, geht es mit sicherer Regelmäßigkeit wieder bergab und ich halte mich zitternd am Lenker fest. Hin und wieder muss ich Fjorde mit kleinen Fähren überqueren. Das bringt willkommenene Pausen, in denen man Durchatmen und sich Aufwärmen kann. Die Landschaft wirkt hier sehr viel offener und freundlicher als im Landesinneren. Hinter jeder Kurve wartet das Meer - ein Anblick, den ich als sehr viel angenehmer empfinde, als die unendliche Waldlandschaft, durch die mich der Bus chauffierte.

Die Gefahr unterschätzt 

Meine Reise fühlt sich plötzlich sehr richtig an. Das Gefühl der Zufriedenheit gibt mir bei jeder neuen Steigung wieder Anschub und lässt mich meine Beine vergessen, die nach 30 Kilometern bereits schmerzten und jetzt nach 40 Kilometern scheinbar schon im Muskelkater-Modus sind. Mein Eierkuchenfriede mit der Welt endet aber abrupt, als ich in ein dunkles Loch in dem Berg vor mir blicke: Ein Tunnel. Eigentlich nichts Neues, schließlich hatte ich schon früher an diesem Tag mehrere Tunnel problemlos durchfahren. Doch dieser ist anders. Schilder deuten an, dass dieses Exemplar 2,7 km lang sei und das Fußgänger und - weitaus ärgerlicher - auch Fahrräder darin nichts zu suchen hätten. Regeln sind wichtig, Regeln sind gut. Und diese hier hätte ich auch liebend gerne eingehalten. Allein die Alternative fehlte mir. Hatte ich vor einigen Kilometern eine Abzweigung übersehen? Nein, so weit ich mich erinnern kann, gab es eigentlich nur den einen Weg, auf dem ich hergekommen bin. Meine Beine senden mir unzweideutige Signale: An eine Rückfahrt, um einen Umweg zu suchen, der vielleicht gar nicht existiert, ist nicht zu denken. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der Verkehr hier kurz vor Molde beachtlich zugenommen hat. "Außerdem ist es ja auch nur ein weiterer Tunnel. Kennste einen, kennste alle!", denke ich. Also setze ich die Sonnenbrille ab, schalte die Fahrradbeleuchtung an und fahre hinein.

Zuerst geht es steil bergab. Das finde ich soweit in Ordnung. Nach über einem Kilometer rasender Abfahrt reift in mir allerdings die Erkenntnis, dass der zweite Teil vermutlich ebenso steil nach oben gehen würde. Wenig später wird diese Ahnung zur Gewissheit. "Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel" geht mir durch den Kopf, wohlweislich, dass dieser physikalische Satz mit der Art und Weise dieser Tunnelführung sicherlich nichts zu tun haben dürfte. Es hat keinen Sinn, sich zu wehren. Ich springe aus dem Sattel und fange an, meinen 30 kg schweren Untersatz zu schieben, das Tageslicht am Ende der Röhre jetzt fest im Blick. Die Autofahrer, die das Hindernis am Straßenrand umfahren müssen, tun dies nicht, ohne ausdrücklich kundzutun, dass sie meine eigenwillige Aktion missbilligen. Die Autos und LKW's rasen, obwohl eigentlich genug Platz vorhanden ist, dicht an mir vorbei und drücken dabei wie wild auf die Hupe. Ein Wagen tritt auf die Bremse, kuppelt aus und lässt den Motor direkt vor mir aufheulen. Ich will nur noch raus und gehe in den Laufschritt über. Abgase steigen mir in die Nase und der Schweiß, der mir zunächst nur kalt den Rücken runter läuft, perlt mir jetzt in die Augen. Die Hälfte des Anstiegs habe ich bereits geschafft, da fangen meine zuvor schon müden Waden an zu zwicken. Dann ist es endlich geschafft. Raus aus dem Tunnel und ab auf den nächsten begehbaren Randstreifen. Ich bin sauer: auf die norwegische Straßenführung, auf die wenig rücksichtsvollen Autofahrer und auf meine eigene Dummheit. Ich lege mich hin, versuche die Krämpfe in meinen Waden loszuwerden und genieße den frischen Sauerstoff. Ein Straßenschild spendet mir Schatten. Darauf steht: "Willkommen in Molde". Ich beende einen tiefen Schluck aus der Wasserflasche und seufze:
"Danke!"
 

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