Würde man Norwegen an seinem südlichsten Punkt der Länge nach umdrehen, läge das Nordkap in der
Sahara. Ja, es ist tatsächlich ein sehr, sehr langes Land. Die Distanzen, die ich an jedem Tag der ersten
Woche zurücklege sind daher auf der Karte so klein, dass es mich allabendlich deprimiert. Doch ich stelle
fest, dass mir das Radeln immer leichter fällt. Ich gewöhne mich immer besser an das Alleinsein und an das
Unterwegssein. Ich notiere in mein Reisetagebuch: "Es scheint, dass ich über den Berg bin, vielleicht kann
ich jetzt die Abfahrt genießen." Anfang der zweiten Woche im Sattel schramme ich schon knapp an der 100
Kilometer Tagesmarke vorbei. Doch während ich langsam besser werde, lässt leider mein Drahtesel nach.
Ein Platten im Vorderreifen, den ich mir in Steinkjer eingefahren hatte, musste bereits geflickt und eine
Halterung meines Gepäckträgers sowie eine Acht im Hinterreifen mussten repariert werden. Der Ruhetag in
Steinkjer eignete sich hervorragend, um sich dieser Probleme anzunehmen und ich hätte bestimmt nicht von
einer Pechsträhne gesprochen, wenn nicht diese eine Fahrt, dieser Höllenritt nach Rørvik gewesen wäre.
Im Kampf mit der norwegischen Natur
Ich habe einen wunderbaren norwegischen Sonnentag hinter mir. Die Straße führt heute nicht so dicht an der Küste entlang. Stattdessen radele ich in sommerlicher Hitze zur Abwechselung mal durch die Felder des
Hinterlandes. Das bedeutet weniger Wind und höhere Anstiege. Doch die Gegend sollte eine ganz besondere
Überraschung bereit halten. Ich klettere gerade mal wieder einen dieser Berge hoch, die mich bis in eine
ganz neue Vegetationszone führen, als ich einen Stich spüre. Ich schaue auf meinen rechten Unterschenkel,
der vor Schweiß in der Sonne glänzt und entdecke einen dicken Brummer, der sich offensichtlich an meinem
Blut labt. Und da sehe ich noch einen. Und auf meinem T-Shirt noch einen, nein zwei, drei. Ich werde
angegriffen. Das ist keine Übung! Sofort schlage ich wild um mich, um diese norwegischen Pferdefliegen zu
vertreiben. Doch sie verfolgen mich. Ich bin zu langsam hier am Berg und muss Vollgas geben. Erst als es
wieder bergab geht, lassen sie mich in Ruhe. Die Freude hält nur kurz. Am nächsten Anstieg sind sie wieder
da. Ich muss versuchen den Fahrtwind beizubehalten und gebe alles. Das ist aber nicht leicht, wenn man
damit beschäftigt ist, sich wie beim Schuplattler auf die Schenkel und die Arme zu hauen, um diese Blutsauger zu vertreiben. Je mehr ich mich anstrenge, schwitze ich und desto mehr Angreifer scheinen dadurch angelockt zu werden. Ich befinde mich in einer regelrechten Insektenwolke. Links und
rechts große Vieh-Weiden. Ich muss lachen - stelle mir vor, wie das hier aussehen mag und sehe mich selbst, mittlerweile so vermummt es nur geht, um mich schlagend, extrem schwitzend mit Stinke-Linien über meinem Kopf und umringt von Fliegen.
Dann lache ich nicht mehr: Mein Hinterreifen verliert
Luft. Ich habe schon wieder einen Platten, dieses Mal
hinten.
Mein erster Verdacht gilt den Stechfliegen. Könnte es
tatsächlich sein, dass sie...? Der Gedanke an einen
plötzlichen Evolutionsschub der Fliegen in Richtung intelligentes Leben lässt mich schaudern. Wie auch
immer, ein platter Hinterreifen würde bedeuten, das ganze Gepäck runter vom Gepäckträger, Reifen flicken,
wieder aufladen, weiter fahren. In der Zeit wäre ich sicher tot, zumindest bräuchte ich wohl eine Infusion
mit frischem Blut. Ich wähle Plan B und füge der Slapstick-Nummer ein weiteres Puzzle-Stück hinzu:
Maximales Abzappeln am Berg, wild um mich schlagen, Stinkelinien, Abspringen, Reifen aufpumpen,
vollständige Einhüllung in eine Insektenwolke, noch mehr schlagen, aufspringen, Kampfschrei,
strampeln...Dann, beim x-ten Mal Aufpumpen, kippt in der Hektik das Rad und fällt hin. Als ich die Arbeit
wieder aufnehmen möchte, merke ich, dass der Ventilstift abgebrochen ist. Noch einmal, ein letztes Mal
kann ich den Reifen leer fahren, dann ist Schluss.
Pleiten, Pech und Pannen
95 Kilometer habe ich hinter mir. Mittlerweile bin ich
aber wieder in der Nähe der Küste und der Fliegen-
Schwarm lässt langsam von mir ab. Ich kontrolliere
meinen Reifen und sehe, dass nun auch der Mantel
löchrig ist. Zu lange fahre ich wohl schon auf dem
fast luftleeren Schlauch herum. Es geht nicht mehr
weiter. Nun heißt es schieben. Die letzten Kilometer
haben ihre Spuren hinterlassen und ich gehe mal
wieder auf dem Zahnfleisch. Ich stelle mich darauf
ein, dass ich wohl auf dem Feld neben der Straße
zelten werde. Entweder schaffe ich es dann morgen
meinen völlig ramponierten Reifen wieder
hinzukriegen oder ich muss die gut und gern zehn
Kilometer bis nach Rørvik, die nächstgelegene Stadt,
schiebend zurücklegen.
Als ich am Straßenrand sitze und meine Optionen überdenke, hält ein mit einer vierköpfigen Familie fast
vollbesetzter Kombi neben mir. Der Mann am Steuer fragt mich irgendetwas auf norwegisch, dann auf
schlechtem Englisch. Er will wissen, ob ich Hilfe brauche und redet von irgendeinem Campingplatz. Ich kann
den Sinn allerdings nicht ganz entschlüsseln. Ich antworte auf englisch und mit Händen und Füßen. Dann
deutet er an, dass er meine Taschen in seinen Kofferraum laden könnte, was ich freundlich aber bestimmt
ablehne. "Ich lasse mich doch jetzt nicht noch beklauen - wäre ja noch schöner", denke ich. Dann bin ich
wieder alleine. Ein Campingplatz klingt echt verlockend. Wenn der Norweger jedoch denjenigen Platz
meinte, der auf meiner Karte eingezeichnet ist, dann ist er in etwa soweit entfernt, wie die Stadt Rørvik.
Happy End dank Magic-Bus
Es wird langsam später Abend. Ich beginne wieder
mit dem Schieben, vielleicht finde ich einen etwas
besseren Schlafplatz, vielleicht muss ich das Stück
dann morgen nicht mehr Schieben. Ich könnte noch
mehrere Stunden laufen und es würde immer noch
nicht dunkel werden. Warum ich tatsächlich noch
weiter schiebe - keine Ahnung! Eine Wiese ist so gut
wie jede Andere. Beim Wild-Zelten hat man
manchmal ein mulmiges Gefühl, das meistens
spätestens dann verschwunden ist, wenn man
erstmal im Zelt liegt. Es dauerte bis jetzt fast nie
länger als vielleicht fünf oder zehn Minuten und ich
war im Land der Träume. Die Verlockung, nach so
einem harten Tag einen Campingplatz zu finden war
aber irgendwie stärker als meine Müdigkeit. Doch
der Weg schien kein Ende zu nehmen. Ich habe
gerade einmal die ersten zwei Kilometer geschafft, da hält erneut ein Fahrzeug neben mir, diesmal aus der
anderen Richtung kommend. Ich traue meinen Augen nicht. Es ist ein VW-Transporter und in ihm sitzt
wieder der Kombi-Fahrer von vorhin. Sein Kollege am Steuer, der Kolbein heißt, wenn ich richtig verstanden
habe, erklärt mir, dass ihm ein Camping-Platz gehört und ob ich vielleicht eine Mitnahme-Möglichkeit
bräuchte. Ich kann mein Glück kaum fassen und muss Wasser trinken, damit ich meine zittrige Stimme in
den Griff bekomme.
Als ich am nächsten Morgen meinen Reifen inspiziere, erkenne ich, dass der Mantel an mehreren Stellen
aufgeschlitzt und der Schlauch praktisch auch nicht mehr zu gebrauchen ist. Und auch dieses Mal bekomme
ich die Gastfreundschaft der Norweger zu spüren, als mich Kolbein einlädt mit ihm in die Stadt zu fahren. In
Rørvik kaufe ich Ersatz für die kaputten Teile und eine Flasche Wein, für meinen Helfer. Auf dem
Camping-Platz bleibe ich daraufhin noch eine Nacht länger. Ich bin fast der einzige Gast. Am Abend setze ich
mich vor mein Zelt, lese mein Buch, schreibe Briefe und genieße das sanfte Brummen, das aus dem
Mückenvernichter nicht weit von meinem Zelt ertönt. Eine solche Maschine habe ich vorher noch nie
gesehen und bin völlig fasziniert, wie effektiv sie funktioniert: Menschen 1, Insekten 0!
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