Freitag, 6. September 2013

Der Magic-Bus-Day

Würde man Norwegen an seinem südlichsten Punkt der Länge nach umdrehen, läge das Nordkap in der Sahara. Ja, es ist tatsächlich ein sehr, sehr langes Land. Die Distanzen, die ich an jedem Tag der ersten Woche zurücklege sind daher auf der Karte so klein, dass es mich allabendlich deprimiert. Doch ich stelle fest, dass mir das Radeln immer leichter fällt. Ich gewöhne mich immer besser an das Alleinsein und an das Unterwegssein. Ich notiere in mein Reisetagebuch: "Es scheint, dass ich über den Berg bin, vielleicht kann ich jetzt die Abfahrt genießen." Anfang der zweiten Woche im Sattel schramme ich schon knapp an der 100 Kilometer Tagesmarke vorbei. Doch während ich langsam besser werde, lässt leider mein Drahtesel nach. Ein Platten im Vorderreifen, den ich mir in Steinkjer eingefahren hatte, musste bereits geflickt und eine Halterung meines Gepäckträgers sowie eine Acht im Hinterreifen mussten repariert werden. Der Ruhetag in Steinkjer eignete sich hervorragend, um sich dieser Probleme anzunehmen und ich hätte bestimmt nicht von einer Pechsträhne gesprochen, wenn nicht diese eine Fahrt, dieser Höllenritt nach Rørvik gewesen wäre. 

Im Kampf mit der norwegischen Natur 

Ich habe einen wunderbaren norwegischen Sonnentag hinter mir. Die Straße führt heute nicht so dicht an der Küste entlang. Stattdessen radele ich in sommerlicher Hitze zur Abwechselung mal durch die Felder des Hinterlandes. Das bedeutet weniger Wind und höhere Anstiege. Doch die Gegend sollte eine ganz besondere Überraschung bereit halten. Ich klettere gerade mal wieder einen dieser Berge hoch, die mich bis in eine ganz neue Vegetationszone führen, als ich einen Stich spüre. Ich schaue auf meinen rechten Unterschenkel, der vor Schweiß in der Sonne glänzt und entdecke einen dicken Brummer, der sich offensichtlich an meinem Blut labt. Und da sehe ich noch einen. Und auf meinem T-Shirt noch einen, nein zwei, drei. Ich werde angegriffen. Das ist keine Übung! Sofort schlage ich wild um mich, um diese norwegischen Pferdefliegen zu vertreiben. Doch sie verfolgen mich. Ich bin zu langsam hier am Berg und muss Vollgas geben. Erst als es wieder bergab geht, lassen sie mich in Ruhe. Die Freude hält nur kurz. Am nächsten Anstieg sind sie wieder da. Ich muss versuchen den Fahrtwind beizubehalten und gebe alles. Das ist aber nicht leicht, wenn man damit beschäftigt ist, sich wie beim Schuplattler auf die Schenkel und die Arme zu hauen, um diese Blutsauger zu vertreiben. Je mehr ich mich anstrenge, schwitze ich und desto mehr Angreifer scheinen dadurch angelockt zu werden. Ich befinde mich in einer regelrechten Insektenwolke. Links und rechts große Vieh-Weiden. Ich muss lachen - stelle mir vor, wie das hier aussehen mag und sehe mich selbst, mittlerweile so vermummt es nur geht, um mich schlagend, extrem schwitzend mit Stinke-Linien über meinem Kopf und umringt von Fliegen. Dann lache ich nicht mehr: Mein Hinterreifen verliert Luft. Ich habe schon wieder einen Platten, dieses Mal hinten. Mein erster Verdacht gilt den Stechfliegen. Könnte es tatsächlich sein, dass sie...? Der Gedanke an einen plötzlichen Evolutionsschub der Fliegen in Richtung intelligentes Leben lässt mich schaudern. Wie auch immer, ein platter Hinterreifen würde bedeuten, das ganze Gepäck runter vom Gepäckträger, Reifen flicken, wieder aufladen, weiter fahren. In der Zeit wäre ich sicher tot, zumindest bräuchte ich wohl eine Infusion mit frischem Blut. Ich wähle Plan B und füge der Slapstick-Nummer ein weiteres Puzzle-Stück hinzu: Maximales Abzappeln am Berg, wild um mich schlagen, Stinkelinien, Abspringen, Reifen aufpumpen, vollständige Einhüllung in eine Insektenwolke, noch mehr schlagen, aufspringen, Kampfschrei, strampeln...Dann, beim x-ten Mal Aufpumpen, kippt in der Hektik das Rad und fällt hin. Als ich die Arbeit wieder aufnehmen möchte, merke ich, dass der Ventilstift abgebrochen ist. Noch einmal, ein letztes Mal kann ich den Reifen leer fahren, dann ist Schluss.

Pleiten, Pech und Pannen

95 Kilometer habe ich hinter mir. Mittlerweile bin ich aber wieder in der Nähe der Küste und der Fliegen- Schwarm lässt langsam von mir ab. Ich kontrolliere meinen Reifen und sehe, dass nun auch der Mantel löchrig ist. Zu lange fahre ich wohl schon auf dem fast luftleeren Schlauch herum. Es geht nicht mehr weiter. Nun heißt es schieben. Die letzten Kilometer haben ihre Spuren hinterlassen und ich gehe mal wieder auf dem Zahnfleisch. Ich stelle mich darauf ein, dass ich wohl auf dem Feld neben der Straße zelten werde. Entweder schaffe ich es dann morgen meinen völlig ramponierten Reifen wieder hinzukriegen oder ich muss die gut und gern zehn Kilometer bis nach Rørvik, die nächstgelegene Stadt, schiebend zurücklegen. Als ich am Straßenrand sitze und meine Optionen überdenke, hält ein mit einer vierköpfigen Familie fast vollbesetzter Kombi neben mir. Der Mann am Steuer fragt mich irgendetwas auf norwegisch, dann auf schlechtem Englisch. Er will wissen, ob ich Hilfe brauche und redet von irgendeinem Campingplatz. Ich kann den Sinn allerdings nicht ganz entschlüsseln. Ich antworte auf englisch und mit Händen und Füßen. Dann deutet er an, dass er meine Taschen in seinen Kofferraum laden könnte, was ich freundlich aber bestimmt ablehne. "Ich lasse mich doch jetzt nicht noch beklauen - wäre ja noch schöner", denke ich. Dann bin ich wieder alleine. Ein Campingplatz klingt echt verlockend. Wenn der Norweger jedoch denjenigen Platz meinte, der auf meiner Karte eingezeichnet ist, dann ist er in etwa soweit entfernt, wie die Stadt Rørvik.

Happy End dank Magic-Bus

Es wird langsam später Abend. Ich beginne wieder mit dem Schieben, vielleicht finde ich einen etwas besseren Schlafplatz, vielleicht muss ich das Stück dann morgen nicht mehr Schieben. Ich könnte noch mehrere Stunden laufen und es würde immer noch nicht dunkel werden. Warum ich tatsächlich noch weiter schiebe - keine Ahnung! Eine Wiese ist so gut wie jede Andere. Beim Wild-Zelten hat man manchmal ein mulmiges Gefühl, das meistens spätestens dann verschwunden ist, wenn man erstmal im Zelt liegt. Es dauerte bis jetzt fast nie länger als vielleicht fünf oder zehn Minuten und ich war im Land der Träume. Die Verlockung, nach so einem harten Tag einen Campingplatz zu finden war aber irgendwie stärker als meine Müdigkeit. Doch der Weg schien kein Ende zu nehmen. Ich habe gerade einmal die ersten zwei Kilometer geschafft, da hält erneut ein Fahrzeug neben mir, diesmal aus der anderen Richtung kommend. Ich traue meinen Augen nicht. Es ist ein VW-Transporter und in ihm sitzt wieder der Kombi-Fahrer von vorhin. Sein Kollege am Steuer, der Kolbein heißt, wenn ich richtig verstanden habe, erklärt mir, dass ihm ein Camping-Platz gehört und ob ich vielleicht eine Mitnahme-Möglichkeit bräuchte. Ich kann mein Glück kaum fassen und muss Wasser trinken, damit ich meine zittrige Stimme in den Griff bekomme.

Als ich am nächsten Morgen meinen Reifen inspiziere, erkenne ich, dass der Mantel an mehreren Stellen aufgeschlitzt und der Schlauch praktisch auch nicht mehr zu gebrauchen ist. Und auch dieses Mal bekomme ich die Gastfreundschaft der Norweger zu spüren, als mich Kolbein einlädt mit ihm in die Stadt zu fahren. In Rørvik kaufe ich Ersatz für die kaputten Teile und eine Flasche Wein, für meinen Helfer. Auf dem Camping-Platz bleibe ich daraufhin noch eine Nacht länger. Ich bin fast der einzige Gast. Am Abend setze ich mich vor mein Zelt, lese mein Buch, schreibe Briefe und genieße das sanfte Brummen, das aus dem Mückenvernichter nicht weit von meinem Zelt ertönt. Eine solche Maschine habe ich vorher noch nie gesehen und bin völlig fasziniert, wie effektiv sie funktioniert: Menschen 1, Insekten 0!

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