Seit ich mich entschieden habe, nicht bis zum Nordkap zu
fahren, fühle ich mich irgendwie müde. Schon die kurzen Etappen setzen mir ganz
schön zu. Es kommt mir vor als wäre ich der eigentlichen Herausforderung dieser
Reise aus dem Weg gegangen. Vorerst werde ich nicht an der steilen Klippe
stehen, die das nördliche Ende unseres Kontinents markiert, werde nicht in die
nicht untergehende Sonne des Nordens und nicht auf die Barentssee blicken, um
irgendwo dahinter den Nordpol zu erahnen. Schon in Narvik fing ich an, meine
Entscheidung zu bereuen.
Der Weg ist das Ziel
Dann aber treffe ich den Schotten (leider habe ich den Namen
nicht erfahren). Der Schotte, ein Radreisender wie ich, war mit seinem Kumpel
erst vor etwa einer Woche am Nordkap gewesen. Als ich ihm berichte, dass ich
mich in Tromsø zum Umkehren entschlossen habe, beglückwünscht er mich. Er
selber habe sich schwer geärgert, als er sich eine Woche lang durch eisigen
Regen und Wind bis zum Nordkap gequält hatte, nur um zu sehen, dass er nichts
sah. Denn das sonnige Nordkap aus dem Prospekt gäbe es nur an ganz wenigen
Tagen zu erleben. Sehr viel wahrscheinlicher sei es, dass man im völligen Nebel
auf der Klippe stehe und dass man schon sehr viel Glück haben müsse, wenn man
mehr als gerade mal das Meer zu seinen Füßen erkennen könne - Glück, das er
nicht hatte. Innerlich ballte ich meine Fäuste und fluchte, denn ich wusste ja:
"I am a lucky guy!" - Verdammt!
Ich hätte im strahlenden Sonnenschein auf diesem Felsen
gestanden, hätte ich es nur versucht. Dann aber fügte er hinzu, dass man ihm am
Nordkap auch noch einen horrenden Betrag für den Eintritt abverlangt habe - den
selben Preis, den auch die plattärschigen Bustouristen bezahlen, die dort oben
zu hunderten abgekippt werden, damit sie ihr Foto machen, im Besucherzentrum
ein Stück Kuchen essen und die vielen weiteren Angebote des perfekt
vermarkteten Nordkaps nutzen können. Aber ja, das ist es! Betrachten wir die
Sache doch mal so: Nur ein Dummkopf würde sich freiwillig zum willenlosen
Rädchen in der Ausbeutungsmaschinerie der hiesigen Tourismusindustrie machen
lassen. Habe ich etwa tausende von Kilometern auf dem Rad zurückgelegt, nur um
mir vorschreiben zu lassen, wie ich meinen ganz persönlichen Moment am Ende der
Welt zu genießen habe? Sicherlich nicht! Im Gegenteil, es ist geradezu die
Pflicht eines jeden mündigen Reisenden, sich nicht vor den dreckigen Karren
dieser sogenannten Fortschrittlichkeit spannen zu lassen, sich nicht an dem
Ausverkauf der ursprünglichen Natur- und Kulturschätze zu beteiligen, sondern
sich diesem Wahnsinn zu entziehen. Und ich wette, der Kuchen ist nicht mal
selbst gebacken. Nein dieses Nordkap möchte ich nicht besuchen. Es widert mich
an. Der Schotte ahnt ja nicht, welche Zufriedenheit er mit seinen Worten bei
mir auslöst - mein Universum war wieder im Gleichgewicht.
Auf den Spuren der Vergangenheit in Narvik
Abschied aus Norwegen
Statt Norwegen nochmal auf meinem Rückweg zu durchqueren,
entscheide ich mich nach Schweden rüber zu machen. Meine erste Station dort
lautet Kiruna. Mir ist nie ganz wohl hier in Lappland, und vor allem im
norwegisch-schwedischen Grenzgebiet, wild zu campen, ist doch diese Region
bevorzugter Lebensraum von
Wie Mad Max in Schweden
Die wahren Raubtiere Lapplands sind sowieso sehr viel
kleiner. Doch dafür gibt es sie milliardenfach: Mücken! Es ist der ewig
wiederkehrende Refrain meiner Reise. An jedem Ort erwartet mich ein neues
blutsaugendes Insekt. In Norwegen hatte ich bereits Kontakt mit außergewöhnlich
großen, aber auch fruchtfliegen-kleinen Stechfliegen. Diese schwirrenden
Vampire hier in Nordschweden entsprechen zwar, soweit ich das beurteilen kann,
der mitteleuropäischen Norm, doch ihre Anzahl ist völlig irrsinnig. Als ich an
einem Waldrand in der Nähe von Piilijärvi mein Lager aufschlage, gibt es keine
Stelle an mir, an meinen Klamotten oder an meinen Taschen, auf die sich nicht ganze
Heerscharen von Mücken stürzen würden. Selbst auf meinem Sattel und dem Lenker
sitzen sie. Ab dieser Nacht habe ich mir angewöhnt, zwischen vier und fünf Uhr
morgens aufzubrechen. Ich bilde mir ein, dass die morgendliche Frische, die
Biester nicht ganz so agil sein lässt. Die frühe Tageszeit hat einen weiteren
Vorteil: Es sind keinerlei Autos unterwegs. Die Straße gehört mir alleine. Es
ist unglaublich still um diese Uhrzeit. Ich höre nichts, außer das surrende
Geräusch meines rollenden Reifens auf dem Asphalt und das Rauschen des
Gegenwindes. Das ertrag ich auf Dauer nicht. Ich gehe daher dazu über, mir
Musik aus meinem MP3-Player auf die Ohren zu geben. Mit den krachenden
Sechzehnteln von The Music oder The Stone Roses fühle ich mich auf diesen endlos
langen, mit dem Lineal gezogenen Straßen wie der Held in meinem eigenen
post-apokalyptischen Science-Fiction-Film, wie Mad Max nur ohne Auto. Die
Landschaft hier oben ist wunderbar flach. Ohne große Mühen spule ich 100 bis
120 Kilometer pro Tag ab und näher mich so mit riesigen Schritten der Ostsee.
Von den Mücken mal abgesehen, ist Schweden ein herrliches Radreise-Land.

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