Sonntag, 15. September 2013

Unter wilden Tieren



Seit ich mich entschieden habe, nicht bis zum Nordkap zu fahren, fühle ich mich irgendwie müde. Schon die kurzen Etappen setzen mir ganz schön zu. Es kommt mir vor als wäre ich der eigentlichen Herausforderung dieser Reise aus dem Weg gegangen. Vorerst werde ich nicht an der steilen Klippe stehen, die das nördliche Ende unseres Kontinents markiert, werde nicht in die nicht untergehende Sonne des Nordens und nicht auf die Barentssee blicken, um irgendwo dahinter den Nordpol zu erahnen. Schon in Narvik fing ich an, meine Entscheidung zu bereuen.

Der Weg ist das Ziel

Dann aber treffe ich den Schotten (leider habe ich den Namen nicht erfahren). Der Schotte, ein Radreisender wie ich, war mit seinem Kumpel erst vor etwa einer Woche am Nordkap gewesen. Als ich ihm berichte, dass ich mich in Tromsø zum Umkehren entschlossen habe, beglückwünscht er mich. Er selber habe sich schwer geärgert, als er sich eine Woche lang durch eisigen Regen und Wind bis zum Nordkap gequält hatte, nur um zu sehen, dass er nichts sah. Denn das sonnige Nordkap aus dem Prospekt gäbe es nur an ganz wenigen Tagen zu erleben. Sehr viel wahrscheinlicher sei es, dass man im völligen Nebel auf der Klippe stehe und dass man schon sehr viel Glück haben müsse, wenn man mehr als gerade mal das Meer zu seinen Füßen erkennen könne - Glück, das er nicht hatte. Innerlich ballte ich meine Fäuste und fluchte, denn ich wusste ja: "I am a lucky guy!" - Verdammt!

Ich hätte im strahlenden Sonnenschein auf diesem Felsen gestanden, hätte ich es nur versucht. Dann aber fügte er hinzu, dass man ihm am Nordkap auch noch einen horrenden Betrag für den Eintritt abverlangt habe - den selben Preis, den auch die plattärschigen Bustouristen bezahlen, die dort oben zu hunderten abgekippt werden, damit sie ihr Foto machen, im Besucherzentrum ein Stück Kuchen essen und die vielen weiteren Angebote des perfekt vermarkteten Nordkaps nutzen können. Aber ja, das ist es! Betrachten wir die Sache doch mal so: Nur ein Dummkopf würde sich freiwillig zum willenlosen Rädchen in der Ausbeutungsmaschinerie der hiesigen Tourismusindustrie machen lassen. Habe ich etwa tausende von Kilometern auf dem Rad zurückgelegt, nur um mir vorschreiben zu lassen, wie ich meinen ganz persönlichen Moment am Ende der Welt zu genießen habe? Sicherlich nicht! Im Gegenteil, es ist geradezu die Pflicht eines jeden mündigen Reisenden, sich nicht vor den dreckigen Karren dieser sogenannten Fortschrittlichkeit spannen zu lassen, sich nicht an dem Ausverkauf der ursprünglichen Natur- und Kulturschätze zu beteiligen, sondern sich diesem Wahnsinn zu entziehen. Und ich wette, der Kuchen ist nicht mal selbst gebacken. Nein dieses Nordkap möchte ich nicht besuchen. Es widert mich an. Der Schotte ahnt ja nicht, welche Zufriedenheit er mit seinen Worten bei mir auslöst - mein Universum war wieder im Gleichgewicht.

Auf den Spuren der Vergangenheit in Narvik

Dass ich nun Zeit habe, die Stadt Narvik zu besuchen, ist mehr als ein Trostpflaster für die ohnehin ganz bewusst und aus gutem Grund getroffene Nordkap-Absage. In diesem 20.000 Einwohner Städtchen, vor deren Toren im Jahr 1940 die See-Schlacht um Narvik ausgetragen wurde, wird die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und die deutsche Besatzungszeit besonders hoch gehalten. Ich verbringe daher einen ganzen Tag im überaus sehenswerten Kriegsmuseum der Stadt. Die Geschichte des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges hat auch in Norwegen (wie in allen Ländern Europas) einige dunkle Kapitel zu bieten. Mein eigener Großvater war als Funker der deutschen Marine auf Schiffen vor der Küste Norwegens eingesetzt, daher ist der Aufenthalt in Narvik durchaus etwas Persönliches. Wenn ich auch letztlich nicht weiß, wie mein Opa zu Norwegen war, so weiß ich aber sicher, dass Norwegen gut zu ihm war, denn er hat den Krieg dort überlebt - was sich letztlich auch recht positiv auf meine eigene Existenz ausgewirkt hat. Er hat außerhalb seines Heimatdorfes nicht viele Spuren auf dem Globus hinterlassen, daher ist es mir besonders wichtig, mehr über die Zeit meines Opas in Norwegen zu erfahren, im festen Glauben, dass sein Besuch hier oben im Norden bestenfalls einfach niemandem aufgefallen ist.


Abschied aus Norwegen

Statt Norwegen nochmal auf meinem Rückweg zu durchqueren, entscheide ich mich nach Schweden rüber zu machen. Meine erste Station dort lautet Kiruna. Mir ist nie ganz wohl hier in Lappland, und vor allem im norwegisch-schwedischen Grenzgebiet, wild zu campen, ist doch diese Region bevorzugter Lebensraum von
immerhin ein paar tausend Braunbären, die es noch in Schweden gibt. Als ich in Bodø zu Besuch bei Sigi war, bekam ich erstmals etwas mit von der realen Existenz dieser Tiere hier im Norden. Erst kürzlich, habe man in der Gegend einen aggressiven Bären angeschossen, erzählte mir Sigi. Und er streife immernoch in den Wäldern rund um Bodø umher. Ich weiß natürlich, dass von den freilebenden Bären hier in Skandinavien praktisch keine Gefahr für Menschen ausgeht und das Unfälle sehr selten sind, dennoch habe ich manchmal ein mulmiges Gefühl, das weitgehend resistent gegenüber guter Argumente ist. Aus diesem Grund frage ich auch so ziemlich jeden Menschen, dem ich in dieser einsamen Region begegne, ob er von irgendwelchen Bären in der Gegend wisse, oder ob er vielleicht sogar einen gesehen habe. Immer wieder werde ich, vor allem von den Einheimischen, beruhigt, dass es sehr schwer sei, diese scheuen Tiere anzutreffen und dass ich mir wirklich keine Sorgen machen müsse. Ein Supermarktangestellter meint es besonders gut mit mir und sagt, dass ich mir über Bären keine Gedanken machen brauche, im Gegensatz zu Elchen. Ich solle mich hüten, aus Versehen zwischen einer Elchkuh und ihrem Kalb zu geraten, sonst könne ich mein blaues Wunder erleben. Von da an musste ich gleich mit zwei Sorgen klarkommen: Bären und Elche. Allerdings sollte es mir in all der Zeit tatsächlich nicht gelingen, einen Bären zu entdecken und einen Elch sah ich auch nur ein einziges Mal.

Wie Mad Max in Schweden


Die wahren Raubtiere Lapplands sind sowieso sehr viel kleiner. Doch dafür gibt es sie milliardenfach: Mücken! Es ist der ewig wiederkehrende Refrain meiner Reise. An jedem Ort erwartet mich ein neues blutsaugendes Insekt. In Norwegen hatte ich bereits Kontakt mit außergewöhnlich großen, aber auch fruchtfliegen-kleinen Stechfliegen. Diese schwirrenden Vampire hier in Nordschweden entsprechen zwar, soweit ich das beurteilen kann, der mitteleuropäischen Norm, doch ihre Anzahl ist völlig irrsinnig. Als ich an einem Waldrand in der Nähe von Piilijärvi mein Lager aufschlage, gibt es keine Stelle an mir, an meinen Klamotten oder an meinen Taschen, auf die sich nicht ganze Heerscharen von Mücken stürzen würden. Selbst auf meinem Sattel und dem Lenker sitzen sie. Ab dieser Nacht habe ich mir angewöhnt, zwischen vier und fünf Uhr morgens aufzubrechen. Ich bilde mir ein, dass die morgendliche Frische, die Biester nicht ganz so agil sein lässt. Die frühe Tageszeit hat einen weiteren Vorteil: Es sind keinerlei Autos unterwegs. Die Straße gehört mir alleine. Es ist unglaublich still um diese Uhrzeit. Ich höre nichts, außer das surrende Geräusch meines rollenden Reifens auf dem Asphalt und das Rauschen des Gegenwindes. Das ertrag ich auf Dauer nicht. Ich gehe daher dazu über, mir Musik aus meinem MP3-Player auf die Ohren zu geben. Mit den krachenden Sechzehnteln von The Music oder The Stone Roses fühle ich mich auf diesen endlos langen, mit dem Lineal gezogenen Straßen wie der Held in meinem eigenen post-apokalyptischen Science-Fiction-Film, wie Mad Max nur ohne Auto. Die Landschaft hier oben ist wunderbar flach. Ohne große Mühen spule ich 100 bis 120 Kilometer pro Tag ab und näher mich so mit riesigen Schritten der Ostsee. Von den Mücken mal abgesehen, ist Schweden ein herrliches Radreise-Land.

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