Hatte ich mich in der ersten Woche über die vielen
Fährüberfahrten noch gefreut, empfinde ich sie mittlerweile irgendwie als
lästig. In den seltesten Fällen bin ich mal pünktlich an den Anlegestellen, so
das ich ständig auf die Fähren warten muss. Andererseits ist es auch schön, zu
beobachten, mit welcher Seelenruhe die Norweger mit dieser alltäglichen Entschleunigung
umgehen. Je weiter ich mich in Richtung Norden bewege, desto entspannter
scheinen die Bewohner zu werden. Einmal, in Nesna, warte ich über eine Stunde
auf eine Fähre - ausnahmsweise nicht, weil ich zu spät bin, sondern weil das
Schiff keine Crew zusammen bekommen hat. Was in meinem preußischen Ohren nach
mangelnder Disziplin bei der Arbeit klingt, nehmen die anderen Passagiere mit
bewundernswerter Gelassenheit hin. Man hält ein Schwätzchen oder vertritt sich
die Beine, jedenfalls scheint es niemand zu stören, dass wir jetzt hier warten
müssen, weil ein Teil der Besatzung zum Angeln gegangen ist oder in die Kneipe
oder sonst wohin. Das Schiff kommt schließlich dann doch, weil irgendeiner vom
Personal einen Schwager auftreiben konnte (wie mir erzählt wird), der uns nun
die Tickets verkauft und Kaffee ausschenkt. Langsam aber sicher ticken die
Uhren hier anders.
Überquerung des Polarkreises
Einzigartige und (fast) menschenleere norwegische
Naturlandschaften Wieder einmal an Bord einer dieser Fähren (leider nicht auf
dem Rad) überquere ich an einem sonnigen Dienstag Morgen den Polarkreis.
Dankbarer Weise befindet sich am Ufer eine Skulptur, die diese gedachte
geografische Linie markiert, andernfalls wäre es schwer gewesen, diesen Moment
auf einem Foto festzuhalten. Dass ich mich in der Nähe des Polarkreises
befinde, hatte ich aber auch ohne diesen Anhaltspunkt bereits am Vorabend
bemerkt. Denn, wie ich schon von einer Bekannten in Deutschland vorgewarnt
wurde, trifft man ziemlich genau ab dieser Grenze auf ganz besondere
Stechfliegen. Sie sehen aus wie harmlose Fruchtfliegen, fügen einem aber
unangenehm juckende, zum Teil sogar leicht blutende Bisse zu. Diese Quälgeister
nerven mich bald so sehr, dass ich mich mit Wehmut an "die guten alten
Zeiten" mit den dicken Pferdefliegen aus Rørvik erinnere.
Begegnungen mit anderen Radreisenden
Neben neuen Insekten lerne ich aber auch ständig neue
Menschen kennen, die sich aus den unterschiedlichsten Gründen ebenfalls mit dem
Rad auf den Weg durch Norwegen gemacht haben. Darunter zum Beispiel ein Paar
aus Österreich, das es bereits von Wien aus bis zum Nordkap geschafft hatte und
sich nun auf dem Rückweg befindet. Ein Jahr haben sie sich für diese Schinderei
frei genommen. Ich würde tippen, dass sie Lehrer sind, habe aber nicht gefragt.
Oder Mike, ein Student aus Katowice mit der Physis eines Windhundes. Er kann sich
das teuere Norwegen eigentlich gar nicht leisten und ernährt sich nur von
Nutella und Weißbrot. Mit Horst aus Dresden fahre ich eine ganze Strecke
zusammen. Als er noch Taxi-Fahrer war, hatte er beschlossen, durch Norwegen zu
radeln, sobald er die Rente durch hatte. Als es endlich soweit war, packte er
die Taschen und machte sich am nächsten Tag auf den Weg. Ich bin ganz froh,
dass ich die Etappe nach Ørnes teilweise mit Horst zusammen fahren kann, auch
wenn ich an den Anstiegen immer wieder Probleme habe mit dem Rentner Schritt zu
halten. Es tut gut die Schönheit der Landschaft mal mit jemandem teilen zu
können, und die Strecke zwischen Kilboghamn und Ørnes mit den dicht stehenden
Bergen, eisblauen Seen, höhlenähnlichen Tunneln und grünen Tälern war wirklich
aufregend schön.
Eine besondere Begegnung hatte ich mit Tommy aus dem
Schwarzwald. Trotz des anhaltend guten Wetters ist der Wind doch manchmal so
schneidend kalt, dass ich zumindest auf meine Langarm-Shirts nicht verzichten
möchte. Tommy sah das etwas anders. Immer wenn ich ihn traf (auf der Straße
oder einer Fähre), hatte er oben blank gezogen. Weder Wetter, noch Stechfliegen
schienen seiner Haut etwas anhaben zu können. Er war bereits seid fast drei
Monaten auf dem Rad und hatte die südlich gelegene Hardangervidda, die größte
Hochebene Europas, noch im Schnee durchquert. Danach hatte er scheinbar seine
gesamte Oberbekleidung als unnötigen Ballast betrachtet. Er berichtet, dass er
auf Felsen geschlafen und sich im Meer gewaschen habe und wenn es nach ihm
ginge, solle dieses Leben niemals enden. Die menschenleere norwegische Natur
und das einsame Reisen mit dem Fahrrad geben tatsächlich ein neues Gefühl der
Freiheit. An manchen Tagen löst diese Erfahrung eine grenzenlose Euphorie in
mir aus. Man fühlt sich, als könne man alles schaffen. Alles ist möglich und
nichts kann einen stoppen. Was hier passiert, geschieht nicht mit dir, es kommt
allein aus dir selbst. Es ist ein schöner Schwindel der Freiheit, das Gefühl
sein Leben zu führen, statt geführt zu werden. Tommy ist diesem Gefühl bereits
erlegen. Er wolle sich auf den Lofoten um Arbeit bemühen und so schnell erst
mal nicht mehr nach Deutschland zurückkehren.
Frischer Fisch, Cognac und ein Federbett - zu Gast in Bodø
Meine Reise führt mich weiter nach Bodø. Über Freunde meiner
Eltern, habe ich eine Telefonnummer eines Bekannten, der vor Jahren hierher
ausgewandert ist und der sich sicher über meinen Besuch freuen würde hieß es.
Mir ist es eigentlich gar nicht so recht, mich bei jemanden einzuladen, der
mich nicht kennt und den ich noch nie zuvor getroffen habe. Als ich Sigi, so
der Name des fremden Bekannten, anrufe und frage, ob ich sein Angebot
wahrnehmen dürfe, erfahre ich, dass er gerade Besuch aus Deutschland habe, was
die Sache etwas verkompliziere. Ich könne aber gerne auf einem Sofa schlafen,
wenn mir das nichts ausmache. Daraufhin fühle ich mich erst recht wie ein
Störenfried, nehme aber trotz meines schlechten Gewissens an. Auf dem Weg nach
Bodø komme ich an Saltstraumen vorbei, dem stärksten Gezeitenstrom der Welt.
Durch den engen Sund werden in kürzester Zeit gewaltigen Wassermassen und damit
riesige Mengen Fisch gezogen, was ihn zu einem wahren Anglerparadies macht.
Nicht zum ersten Mal bereue ich es, dass ich keine Angelrute, geschweige denn
Ahnung vom Angeln habe. Meine Befürchtungen, dass ich mit meinem spontanen
Besuch bei Sigi nicht willkommen sein könnte, erweisen sich bereits kurz nach
meiner Ankunft als unbegründet. Ich wasche meine Klamotten, nehme eine heiße
Dusche, genieße ein fantastisches Abendessen mit Sigi und den übrigen Gästen.
Frisch gefangener Fisch, Salate, Kartoffeln - das alles fühlt sich wie eine
vorzeitige Belohnung an, für die Kilometer, die hinter mir liegen. Es folgen
Kaffee und Cognac auf der Terrasse, nette Gespräche und die bisher hellste
Nacht meines Lebens. So schön die norwegische Freiheit, dieses einsame
Hochgefühl auch ist, merke ich doch mal wieder, wie angenehm die Gesellschaft
anderer Menschen, wie bequem das normale Leben ist und wie unverzichtbar
Freunde und Familie sind "...Und dann merkst du allmählich, dass die Welt
gar keine Taten und Opfer verlangt, dass das Leben keine heroische Dichtung
ist..., sondern eine gut bürgerliche Stube, wo man mit Essen und Trinken,
Kaffee und Stickstrumpf, Tarockspiel und Radiomusik vollkommen zufrieden
ist." Wie es der Zufall will, lese ich vor dem Einschlafen in meiner
Reiselektüre genau diese Zeilen und kann nur sagen: "Bingo Hesse - du
sprichst mir gerade aus der Seele!" Der Weg, der noch vor mir liegt, bis
zum Nordkap, erscheint plötzlich nicht mehr besonders reizvoll, schließlich
wird es in der ewig langen Taiga Lapplands erst so richtig einsam. Ich
beschließe aber mir darüber Gedanken zu machen, wenn ich auf den Lofoten
angekommen bin und die einlullende Wärme des Cognacs in meinem Bauch
verschwunden ist.
Angekommen am Å der Welt
Die Fähre nach Moskenes (Lofoten) geht früh am nächsten
Morgen. Das Bergmassiv, das die Inselkette wie einen riesigen unbewohnbaren
Asteroiden erscheinen lässt, ist bereits von Weitem zu sehen. Ich beschließe,
als aller erstes bis an die äußerste West-Spitze der Lofoten zu fahren. Auf der
engen Straße reiht sich Wohnwagen an Wohnwagen. In manchen Kurven müssen sich
die Camper regelrecht am Gegenverkehr vorbei drücken und ich muss höllisch
aufpassen, das ich nicht unter die Räder komme. Am Ende der Inselkette erreiche
ich das kleine Dorf mit dem großen Namen "Å". Ich fahre so lange es
noch eine Straße gibt, dann nur noch einen Weg, dann schiebe ich mein Rad über
eine Wiese bis zur Felsenküste. Ich bin da. Das Ende der Lofoten. Es fühlt sich
an, wie das Ende der Welt. Und wen sehe ich da? Tommy aus dem Schwarzwald. Er
trägt ein T-Shirt! Wir teilen Kekse und Kaffee und, obwohl ich es noch nicht
weiß, ist das Nordkap in diesem Moment für mich gestorben.
Sightseeing auf den Lofoten
Im Land der Mitternachtssonne
Bereits auf dem Weg an die Nordküste fängt es an zu tröpfeln und später am Abend wird der Regen sogar noch stärker. Ich verkrieche mich in meinem kleinen Tunnelzelt, das ich an einem herrlichen Platz - der gute Mann im Kiosk hatte auch damit recht - auf einem Grünstrand direkt am Wasser aufgestellt habe und döse langsam zu dem Geräusch von tausenden kleinen Trommelschlägen ein. Später in der Nacht wache ich kurz auf. Was war das? Hab ich das richtig gesehen? Ich trau meinen müden Augen nicht. Zuerst glaube ich, neben mir hat jemand ein Feuer gelegt, denn mein Zelt, das normalerweise dämmrig weißes Licht herein lässt, leuchtet nun in hellroter Farbe. Ich öffne den Eingang ein Spalt und sehe das schwarze Nordmeer an dessen Ende die Sonne, nunmehr ein knall rot-oranger Feuerball, knapp über dem Horizont ein Wolkenloch gefunden hat und mein Zelt in Flammen setzt. Ich bin sicher, hätte Gott Atomraketen, würde er sie wohl mit diesem Knopf abfeuern. "Es ist nur die Sonne, die ich schon hundertmal so gesehen habe", versuche ich mir klar zu machen, um mich auf den Boden der Tatsachen zu holen. Es funktioniert aber nicht. Ich weiß, es ist jetzt 0:45 Uhr und da ist dieses Ding und ab jetzt wird es nur noch heller. Es ist unwahrscheinlich schön. Und irgendwie denke ich, dieser Moment ist jetzt verloren, weil ich ihn nur für mich alleine habe.Zur Abwechslung: Ein Ausflug mit dem Rad
Ich habe noch nie Eintritt für ein Dorf gezahlt. Hatte ich nicht erst gerade 'ne Menge Geld bezahlt, um mein Dorf in Deutschland verlassen zu können? Beißende Ironie! Um Nusfjord betreten zu dürfen, muss ich neue Wege beschreiten und einen stattlichen Wegzoll abdrücken. Es ist ein nettes kleines Nest, voll mit bunten alten Fischerhütten, einem Museum und vielen, aber zu nicht zu vielen Touristen. Dennoch bin ich froh, dass ich bei dem 80 Kilometer-Fahrradausflug ausnahmsweise mal ohne Gepäck unterwegs bin, ansonsten hätte ich mich über den Aufwand wohl geärgert. Seit dem Erlebnis vor ein paar Nächten sind die Sonne und ich dicke Kumpels geworden. Sie scheint und wärmt wo ich in diesem Land gehe und stehe. Und auch die bunten Rorbuer-Hütten in Nusfjord kann ich bei blauem Himmel in den schönsten Farben fotografieren. Wir hätten zusammen alt werden können, doch die norwegische Sonne ist eine launische Braut (was für ein Satz!). Das gute Wetter ist ein Tag später - es ist mein letzter auf den Lofoten - bereits Geschichte. Ich kann die Wolkenwand schon von Weitem beobachten, wie sie langsam über das Meer auf mich zu rollt. Es dauert nicht lange und tief hängende, graue Wolken Auf dem Weg nach Tromsø wickeln sich lustig um die Gipfel der Berge und schließlich hüllen sie auch mich in einen klebrig feuchten Nebel ein. Die Temperatur ist rapide gesunken, auf dem Rad weht ein kalter Wind und mittlerweile regnet es wieder, trotzdem mach ich mich nun weiter in Richtung Norden auf. Mein Weg bringt mich über die Vesterålen, der nördlich der Lofoten gelegenen Inselgruppe, über die Insel Senja nach Tromsø - die Stadt, von der aus der norwegische Nationalheld Roald Amundsen zu seinen Expeditionen in das Polarmeer aufbrach.
Nachdem ich mich an die Anstrengungen der fünf bis sechs stündigen Radtouren gewöhnt hatte, scheint jetzt nun wirklich eine neue Herausforderung auf mich zu warten. Zwar waren Straßen und Landschaft zuletzt schön flach, doch musste ich ständig im eiskalten und feuchten Gegenwind radeln. Ich trage Handschuhe und Fließjacke. Es ist Juli aber ich komme mir vor, wie auf einer Radtour im herbstlichen Holland. Ich erinnere mich daran, dass ich immerhin schon über 300 Kilometer nördlich des Polarkreises bin - ein Gedanke, der mir hilft, die Witterung besser zu ertragen. Kurzzeitig unterbreche ich sogar meine Fluch-Tiraden, die auf dem Rad schon zu einer Art Mantra geworden sind. Richtig hart wird es dann aber auf der Insel Senja. Auf der Fährüberfahrt über das aufgewühlte offene Polarmeer umfängt mich eine hartnäckige Übelkeit, die ich den ganzen Tag nicht mehr loswerde. Trotz dieser Formkrise, muss ich zwei ordentliche Bergkuppen überqueren, die mich bis an die Schneegrenze führen. Bei der Abfahrt klammer ich mich, trotz aller Klamotten am Leib, zitternd an den Lenker. All das hat aber auch seine gute Seiten. Je kälter, je nasser, je größer die Qual, desto mehr freut man sich an Dingen, wie dicke trockene Socken, einem heißen Kaffee oder dampfende Duschen.
Bis hier hin und nicht weiter
Ich erreiche Tromsø an einem trockenen Abend. Die Einfahrt in die Stadt, nach einer über 90 Kilometer langen Tagesetappe, ist sicherlich eines der schönsten Erlebnisse dieser Reise bisher. Die Luft ist kristallklar, wie an einem milden Wintertag in Deutschland. Das Wetter hat sich beruhigt und schüchterne Sonnenstrahlen bringen die schneebedeckten Berge ringsum Tromsø zum glänzen. Meine Vorfreude auf die Stadt ist groß, immerhin gilt sie als das Paris des Nordens. Tromsø ist die Stadt mit der nördlichsten Universität und - für ein Kind des Ruhrgebiets noch bedeutender - mit der nördlichsten Brauerei der Welt. Sie wird das "Tor zum Eismeer", "Eismeerstadt" oder eben "das Paris des Nordens" genannt. Meinetwegen könnte sie "Stadt der meisten Beinamen" heißen, das wäre wohl treffender als ein Vergleich mit der französischen Metropole. Ganz ehrlich: Tromsø hat für mich den weltstädtischen Charme Bochum-Wattenscheids. Ich verbringe die meiste Zeit in Museen, im Botanischen Garten und der Bibliothek (des Internets wegen). Die Innenstadt war bereits am späten Nachmittag ausgestorben. Als ich vor der berühmten Eismeer-Kathedrale stehe, stelle ich fest, das sie nicht mehr ist, als eine merkwürdig geometrische Dorfkirche. Meine Erschöpfung mischt sich mit Enttäuschung. Liegt es wirklich an Tromsø oder liegt es an mir? Ich glaube, weiter im Norden werde ich nicht glücklich. Ich erfahre im Internet, dass das Wetter da oben noch schlechter werden soll und spätestens jetzt weiß ich, dass mein Hinweg beendet ist. Tromsø ist nicht zwar nicht das Nordkap, doch am Nordkap gibt es keine Brauerei. Morgen werde ich umkehren.


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