"Und Du fährst so ganz alleine?" Lerne ich hier Menschen kennen, ist das spätestens der dritte Satz in einem Gespräch. Radreisende, die auf Begleitung verzichten, sind hier an der Westküste Norwegens nun wirklich keine Seltenheit. Dennoch scheint mein Solo-Ausritt für Verwunderung zu sorgen. "Nun, meine Freunde hatten keine Zeit oder keine Lust und es war schon immer mein Traum...jetzt oder nie...", so oder so ähnlich klingt die Antwort, die ich mir zurecht lege. So richtig stimmt es ja nicht. Irgendwie ist es ja schon so, wie es auf den ersten Blick scheint. Es ist, so abgedroschen es klingen mag, tatsächlich ein Versuch, mich selber besser kennenzulernen, je weiter ich mich örtlich entferne, näher zu mir zu kommen, ja meinetwegen ist es halt ein "Selbstfindungstrip". Ich hasse den Begriff. Er klingt irgendwie esoterisch angehaucht. Die erste Woche auf dem Rad in Norwegen ist jedenfalls keine Selbstfindung, sondern höchstens eine "Selbstzurechtfindung". Tatsächlich drehen sich meine Gedanken vor allem um die essentiellen Themen: Kilometer, Essen, Trinken und Schlafen. Eine weitere Sorge löst sich, angesichts der einladenden öffentlichen Toiletten, sehr bald in Wohlgefallen auf. Wie sagte mal ein berühmter Dichter: "Den Grad der Kultur einer Nation erkennt man an dem Zustand ihrer Toiletten" - oder so ähnlich. Norwegen jedenfalls ist unübersehbar eine Hochkultur.
Die Etappen der ersten Woche sind schon ziemlich anstrengend. Und das, obwohl ich mit ca. 50-60 Kilometern pro Tag noch weit unter dem liege, was ich mir erhofft hatte. Wenn ich mich nicht bald steigere, werde ich es schon aufgrund der mir zur Verfügung stehenden Zeit nicht bis zum Nordkap schaffen. Nach der täglichen Fahrerei kann ich gerade noch mein Zelt aufbauen und mir etwas zu Essen kochen, dann fallen mir auch schon die Augen zu. Eigentlich will ich noch etwas Lesen und vielleicht ein paar Zeilen schreiben. Keine Chance! Auf dem Rad denke ich viel über Essen nach. Ich habe eigentlich immer Hunger, obwohl ich morgens ordentlich Müsli und Brote und abends so viel Nudeln esse wie ich schaffe und es mir auch sonst an nichts mangelt. Natürlich versucht man mit möglichst leichten Taschen zu fahren, so dass man nur das Nötigste an Nahrung und Getränken mit sich führt. Ich suche also jeden Tag aufs Neue einen Supermarkt auf und muss mich daher auch jeden Tag aufs Neue über die Preise ärgern. Die Supermarkt-Landschaft hier ist eine andere als in Deutschland. Es gibt im Wesentlichen zwei verschiedene Ladenketten - die eine ist teuer, die andere ist noch teurer. Lebensmittel wollen hier wohl ausgewählt werden, möchte man zwei Monate mit einem kleinen Budget auskommen.Die Atlantikstraße
Des schnöden Mammons wegen, hatte ich mir auch vorgenommen, so oft es möglich ist, wild zu zelten. Dies ist in Norwegen dank des "Jedermannsrecht" unter bestimmten Voraussetzungen gestattet. Auf der Straße E64 nach Kristiansund habe ich bei der Suche nach einem Schlafplatz zwar das Recht auf meiner Seite, doch die Landschaft gegen mich. Ich habe mir seit der anstrengenden Anreise per Bahn und Schiff noch keine längere Pause gegönnt und auch heute war es mal wieder ein langer Tag im Sattel. Ich muss erst noch herausfinden, was ich auf dem Rad leisten kann und stelle fest, dass ich heute wohl zu weit gegangen bin. Mein Weg führte mich über die Atlantikstraße, die von den Norwegern zum "Bauwerk des Jahrhunderts" gewählt wurde. Die Straße ist eigentlich eine einzige Aneinanderreihung von mehreren spektakulären Brücken. Sie windet sich wie ein verdrehtes Kabel von einer Insel zu nächsten. Ich fühle mich, wie auf einer Carrera-Bahn - nur das es keine Stromschienen gibt, die mich antreiben. So schön es ist, auf dieser Straße über das Meer zu gleiten, es ist auch eine Kraftleistung. Jede neue Brücke bedeutet auch einen neuen steilen Anstieg. Der Wind hier draußen macht es nicht einfacher. Mal schiebt er mich zur Seite, mal drückt er von vorne. Als es Abend wird, bemerke ich, dass diese felsige Küstenlandschaft nicht gerade geeignet ist, um sein Zelt darauf zu setzen. Doch sehr weit komm ich heute nicht mehr. Meine Beine sind bloß noch leere Hülsen. Ich bin mir längst nicht mehr sicher, ob meine Beine die Pedale antreiben oder ob die Pedale sie antreiben.
Der Camping-Garten auf Averøy
Auf der Insel Averøy frage ich einen Mann, den ich zufällig an der Zufahrt zu seinem Haus treffe, ob er vielleicht einen guten Ort wüsste, an dem ich über Nacht mein Zelt stehen lassen könnte. Er schaut die Straße herunter als gäbe es da irgendetwas zu sehen und sagt, dass ich schätzungsweise in 10 oder 15 Kilometern an einen Camping-Platz käme. Die Antwort habe ich nicht gerade erhofft und scheinbar kann man die Enttäuschung an meinem erschöpften Gesicht ablesen. "Wenn du willst, kannst du dein Zelt auch da auf den Rasen setzen", schiebt derNorweger hinterher und deutet auf das Gebüsch vor seinem Haus. Zwar kann ich beim besten Willen von meiner Stelle aus kein Stück Rasen erkennen, doch ist mir das mittlerweile auch egal. Ich bin müde und würde meinetwegen auch auf einem Rhododendron schlafen. Doch der Mann kannte sein Grundstück besser. Geschützt von allerlei Gestrüpp und unter einem Balkon kann ich mein Zelt problemlos aufbauen. Mit so einer Gastfreundlichkeit hatte ich nicht gerechnet. Doch sollte ich noch mehr als ein Mal erfahren, dass die oft als kalt geltenden Nordmenschen in Wirklichkeit eine besondere, weil unaufdringliche Herzlichkeit besitzen. Ich bedanke mich überschwänglich. Nachdem ich erklären musste, dass meine Freunde keine Zeit oder keine Lust hatten, mich zu begleiten, schlafe ich, noch lange bevor die Sonne ihre kurze Pause einlegt, zufrieden ein.
Am Scheideweg
Am Ende der ersten Woche erreiche ich Steinkjer. Es ist für mich eine wichtige Wegmarke. Die Stadt ist mit ihren rund 20.000 Einwohnern vorerst die letzte größere Stadt auf dem Weg nach Norden. Ich bin hier. Das bedeutet ich komme mit meinen kleinen Etappen tatsächlich immer weiter voran und ich kann es sogar bis zum Nordkap schaffen, wenn ich will. Es heißt auch, dass ich mich nun entscheiden muss, wie ich von hier aus weiter fahre. Hinter Steinkjer gibt es im Wesentlichen nur noch zwei Straßen, die weiter nach Norden führen. Nehme ich die landschaftlich reizvolle aber längere Küstenstraße 17, den sogenannten Kystriksveien, oder die E 6, die mich wohl auf kürzerem Weg zum Nordkap führen würde? Eine Begegnung sollte mir zu meinem großen Glück diese Entscheidung abnehmen. In den Städten ziehe ich es vor, auf Camping-Plätzen zu schlafen, jetzt am Ende der ersten Woche umso mehr, da ich wirklich einen Ruhetag gebrauchen kann. Ich esse an einem richtigen Tisch und genieße eine lange warme Dusche. Als ich zu meinem Zelt zurückkehre, sehe ich, dass ein weiterer Radreisender angekommen ist. Als erstes bemerke ich den Aufkleber auf den Satteltaschen seines Rennrades. "Danish Dynamite" steht darauf. Der Fremde hat gerade begonnen sein Zelt auszupacken. Keine fünf Minuten später steht das Teil fertig da und der Kollege hat bereits seinen Gaskocher angeschmissen. Ich kann nur staunen. Olaf, wie der Fahrradfahrer heißt, ist überhaupt eine echte Erscheinung. Den Aufkleber hat er jedenfalls verdient, denn, wie sich herausstellt, ist er nicht nur Däne, sondern vor allem auch Dynamit. Er ist sehnig wie ein Marathon-Läufer, breitschultrig und braun gebrannt wie ein polnischer Erntehelfer, dabei hat er die 40 offensichtlich schon lange überschritten. Seine Waden sind dick wie Brückenpfeiler. Kaum ein Quadratzentimeter Lederhaut auf seinen Beinen, der nicht mindestens zwei oder drei Mückenstiche aufweisen würde. Keine Frage, ich habe eine radreisende Frontsau vor mir. Ich muss meinen Mut sammeln, um zu fragen, wo er herkommt. Mit unüberhörbarem Stolz in der Stimme sagt er, er sei vor acht Tagen vom Nordkap gestartet und jeden Tag, trotz Schnee und Regen in Lappland, fast 200 Kilometer auf der E6 runtergestrampelt. Und ich glaube ihm. In dem Moment weiß ich, welchen Weg ich einschlagen würde. Meine Reise sollte eigentlich genau das Gegenteil werden, von dem, was mein Gegenüber macht. Jedenfalls will ich ganz sicher kein Rennen gegen die Zeit, nur um das Kap zu erreichen. Klar will ich es immer noch da hoch schaffen, aber nicht auf Kosten des Weges. Dank Olaf wusste ich nun wie es weitergehen sollte. So unterschiedlich unsere Vorstellungen einer Radwanderung waren, herrschte doch ein stillschweigendes Verständnis für den anderen. Jedenfalls fragte er nicht, warum ich so ganz alleine reise und ich ihn auch nicht.




